"Ausgewachsene Weibchen greifen ohne ersichtlichen Grund an!“ Die Titel von Bob Carlos Clarkes Bildern verstören mindestens so sehr wie seine Fotos. Wir sehen eine Frau in schwarzem Latex, ihren Rücken ziert eine markante Haifischflosse. Ganz wie sein Vorbild Helmut Newton spielt Clarke mit unseren dunkleren Fantasien – und gleichzeitig mit unseren Schuldgefühlen.
Hoppla, darf man so etwas erotisch finden? Und überhaupt: Ist Erotik noch zeitgemäß? Wo bleibt die Verlockung des Unbekannten, die sie eigentlich erst zum Knistern bringt, wenn online längst alles möglich und von jeder Perspektive beleuchtet ist?
„Die Sensibilität wird durch die Flut an sexuellen Inhalten – und ihre ständige Verfügbarkeit – heruntergesetzt, das ist natürlich richtig“, sagt Psychologin und Sexualtherapeutin Beatrix Roidinger.
„Und das ist insoweit ein Problem, als gerade bei jungen Menschen unrealistische Erwartungshaltungen erzeugt werden. Andererseits dürfen wir aber auch eine Welt erleben, in der vieles, das früher tabuisiert war, ganz einfach möglich ist, in der man Dinge ausprobieren DARF.“
Erotische Glut braucht Abstand
Aber wo bleibt hier das geheimnisvoll Andere, vielleicht sogar das Verbotene? Stammen die großen erotischen Meisterwerke nicht eher aus einer Zeit, in der wir einander noch nicht so nahe waren? „Ja, wenn wir von einer sogenannten galanten Erotik sprechen, die sehr den traditionellen Geschlechterrollen entspricht“, stimmt Beatrix Roidinger zu. Und ja, eine gewisse Distanz schadet nicht, gibt die Expertin zu, denn ohne Abstand lässt sich Glut nur sehr schwer entfachen, was für Pärchen nach acht Wochen Selbstisolation doch kleine Abnützungserscheinungen mit sich bringen kann.
Der wesentliche Punkt ist aber: „Es kam zu einer Pluralisierung der Erotik. Geschlechtsidentitäten heben sich auf, man kann jede Seite ausleben, die man in sich hat. Das eröffnet an sich schon sehr viel zu entdecken. Auch am Langzeitpartner. Und es ergibt ein Nebeneinander verschiedenster Spielarten, bei dem auch die galante Erotik ihren Platz hat. Wichtig ist, dass sie nicht mit einem patriarchalen Backlash kombiniert ist, sondern einer rein sinnliche, spielerische Ausprägung.“
Was wohl Bob Carlos Clarke von diesem Ansatz halten würde? Er schied viel zu früh aus dem Leben, wäre dieses Jahr 70 geworden. Oder sein Seelenverwandter Helmut Newton, der heuer seinen 100. Geburtstag feiern würde.
Sie waren Männer aus einer anderen Zeit. Das sieht man auch ihren Bildern an, die deshalb nichts von ihrer Kraft verloren haben. Sie repräsentieren eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Analog, ohne Tricks und digitalem Farbkasten.
Beide Künstler waren der Londoner Little Black Gallery sehr verbunden, wo sie oft ausgestellt haben. Die hat nun zwei bemerkenswerte Bildbände kuratiert: „Girls, Girls, Girls“ und „Boys, Boys, Boys“.
Mit einigen der besten Fotografen der Welt, Bob Carlos Clarke etwa und Ellen von Unwerth, dazu etliche junge Wilde – und ein gemeinsames Ziel: Der menschliche Körper. In all seiner wunderbaren Unterschiedlichkeit, seinen Formen – in allen erdenklichen Lebenslagen.
Ein Band feiert den weiblichen und einer den männlichen Körper. Als beinahe klassischen Akt, in geometrischen Linien, abstrakt, in der Natur, gemeinsam, allein, lasziv, gelassen, provokant. Ein herrlich anachronistisches Werk in Zeiten von Wisch-und-weg-Dating und einer Flut an glattgebügelten Insta-Bildern.
Denn Makellosigkeit, das wussten schon Clarke und Newton, ist kein Bestandteil der Erotik. Im Gegenteil, wo Makellosigkeit zur Norm wird, ist kein Platz mehr für sie. Jeder der Menschen auf diesen Bildern ist einzigartig. Und vielleicht schafft diese Einzigartigkeit schon jene nötige Distanz, um die Glut zu entfachen, von der die Expertin spricht. Vielleicht ist ja genau diese Einzigartigkeit das wahre Geheimnis der Erotik.
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