Ein Haufen harter Hunde
Ob Alice im Wunderland oder die Satanischen Verse – in vielem, was heute zur Allgemeinbildung zählt, steckt ein gerüttelt Maß an Rugby. Im Fall der Autoren Lewis Carroll und Salman Rushdie ist es der Besuch der Rugby School, einer dieser berühmten britischen Privatschulen in Rugby (der Ort heißt wirklich so), an denen den Kindern neben Wissen auch Disziplin und gutes Benehmen vermittelt werden. Ein anderer Absolvent des Internats war William Webb Ellis, und mit ihm beginnt auch jene Legende aus dem Jahr 1823, an deren Ende der gerade gestartete, drittgrößte Sportveranstaltung der Welt (nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM) steht: die Rugby-WM 2015 in England.
2,8 Millionen Zuschauer werden in den Stadien erwartet, und nach 48 Partien wird am 31. Oktober der neue Weltmeister feststehen. Dass die WM sechs Wochen dauert, hat mit der Intensität des Sports zu tun – zwar ist ein Spiel nur 80 Minuten lang, doch der Regenerationsbedarf ist um ein Vielfaches höher als etwa beim Fußball.
Wenn William Webb Ellis nur geahnt hätte, was seine überlieferte Tat aus dem Jahr 1823 so alles auslösen würde. Jedenfalls soll er als 16-Jähriger in einem Fußballspiel den Ball in die Hand genommen haben, nach vorne gestürmt sein und ihn ins gegnerische Tor gelegt haben. Die Geburtsstunde des Rugby?Wir werden es wohl nie erfahren. Denn Sportarten, die dem heutigen Rugby nicht unähnlich sind, gab es schon zur Zeit der Römer (beim Harpastum spielten allerdings bis zu 1.000 Akteure pro Mannschaft und nicht 15 gegen 15) und später auch in Irland – in Form von Caid. Und weil William Webb Ellis sich davor und danach eher leidlich dem Cricket widmete, Theologie studierte, Pfarrer wurde und 1872 im südfranzösischen Städtchen Menton starb, kann er uns auch nicht sagen, ob stimmt, was Matthew Bloxham vier Jahre nach Webb Ellis’ Tod niederschrieb. Nämlich die Geschichte vom Burschen, der beim Fußball den Ball in die Hand ...
Webb Ellis ist trotz aller Zweifel einer der wesentlichen Figuren geblieben, schon allein als Namensgeber der Trophäe, um die seit 1987 alle vier Jahre bei der WM gespielt wird. Titelverteidiger ist Neuseeland, Rekordsieger auch – Letzteres sind jedoch auch Südafrika und Australien: Alle drei Nationen halten bei je zwei Titeln. England, das Mutterland dieses Sports mit dem Spielgerät, das Rugby-Ball oder aber Rotationsellipsoid genannt wird (wer Eierlaberl sagt, hat eine gute Aussicht auf böse Blicke), holte nur einmal den Titel. 2003, mit dem unvergessenen Jonny Wilkinson, dessen Rekord von acht Drop Goals in einem Turnier bis heute unerreicht ist. Sein letztes in der letzten Minute der Verlängerung des Finales gegen Australien entschied damals die Partie.
Wilkinson, der im vergangenen Jahr zurückgetreten ist, war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Er brachte es bei der WM 2003 auf 113 Punkte (Rekord), insgesamt hält er bei 249 WM-Punkten (Rekord) – und der heute 36-Jährige hat das Spiel verändert. Sein goldener linker Fuß, mit dem er so viele Penalties und Conversions und Drop Goals erzielte, war Grund dafür, dass die Engländer nicht wie üblich den Weg ins gegnerische Malfeld suchten, um einen Try (fünf Punkte) zu legen und danach eine Conversion (zwei Punkte) zu erzielen – dank Wilkinson konnten sie es sich leisten, auf Fehler des Gegners zu warten und sich dann auf ihren Kicker verlassen. Für Traditionalisten ein Unding, und auch eines, das sich später nicht wirklich durchgesetzt hat.Was dem brasilianischen Fußballfan das jogo bonito, das schöne Spiel, ist dem Rugby-Fan das Traditionelle. Das elegante Line-out; das Scrum, bei dem mehr als 800 Kilo Menschen gegen mehr als 800 Kilo Menschen anschieben, nur, um den Ball unter dem Knäuel hindurchzurollen; und natürlich der Try, der oft mit einer Flugeinlage garniert wird. Es ist die Mischung aus schierer Wucht und beinahe fragil wirkender Eleganz, aus taktischer Finesse und rasend schnellen Passfolgen, die diesen Sport so einzigartig macht. Und es ist die Philosophie dahinter: Respekt, Disziplin, Gemeinschaftssinn. „Rugby, ein Sport für Hooligans, gespielt von Gentlemen“, heißt ein englisches Sprichwort. Auf dem Feld darf nur der Kapitän mit dem Schiedsrichter sprechen; der wiederum kann zur Entscheidungsfindung im Gegensatz zum Fußball auf einen Video-Schiedsrichter zurückgreifen; und nach Spielschluss sitzen die Beteiligten beim Dinner zusammen, das nicht selten eine Verlängerung erfährt.
Rugby verbindet. Auch in Österreich: „Rugby opens Borders“ heißt das Projekt von Österreichs Dauermeister Donau Wien, bei dem sich Spieler und Trainer jungen Flüchtlingen widmen, auf und neben dem Platz. Rund 30 sind es derzeit, „einer hat gerade einen positiven Asylbescheid bekommen, jetzt suchen wir eine Unterkunft“, erzählt Stiig Gabriel. Der 52-fache österreichische Teamspieler ist inzwischen sportlicher Leiter von Donau, und so international es in seinem Brotberuf bei der OSZE zugeht, so international ist auch der Rugbysport. Die Nationalteam-Stützen Michael Kerschbaumer und Max Navas sind nach einem halben Jahr in Südafrika wieder zurück in Wien, „sie haben es dort sogar in die erste Mannschaft des Varsity College RFC geschafft“, berichtet Gabriel. Er erzählt von den Gebrüdern Freydell, von denen Sebastian, der Ältere, vor einem Profi-Engagement in England steht, während Max, der Jüngere, noch die Saison im U-21-Team der Sharks aus Durban fertigspielt.
Die Grenzen sind auch in andere Richtungen offen. Davon zeugt etwa Stade Rugby, der französische Wiener Klub, oder das anglophone und -phile Vienna Celtic. Davon zeugt Yvan Wever, der österreichische Teamspieler aus Südafrika, der auf den Spuren seiner Ahnen zurückkehrte und nun als Lehrer an einer Wiener Schule arbeitet. Und dass die Philosophie und der Sport auch hierzulande immer mehr Freunde finden, davon zeugen die Klubs, die sich nun in allen Bundesländern etabliert haben.
Wer sich selbst ein Bild von Rotationsellipsoid und Co machen will: Eurosport überträgt die WM live. Und der nächste Rugby-Platz ist inzwischen gar nicht mehr weit.
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