Ich bin ich

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Als Emma zur Welt kommt, bringt sie auch gleich einen Befund mit in ihr junges Leben: Down-Syndrom. Das ist zunächst ein großer Schock für die Eltern. Doch dann wird alles nicht so schlimm wie befürchtet.

Die zweieinhalbjährige Emma stapft über den Holzboden der geräumigen Wohnküche in Rudolfsheim-Fünfhaus, fällt hin, zupft sich die linke Socke vom Fuß, rappelt sich wieder auf, stapft mit einer Socke weiter und verschwindet im Kinderzimmer bei ihrem Bruder Ian, 5. Eine ganz alltägliche Szene im Leben einer Familie. Eigentlich ... „Emma macht unsere Familie komplett“, sagen Evelyne Faye und Philipp Horak, beide 38. Dass sie mit ihrem Leben heute so zufrieden sein würden, hätten sie kurz nach Emmas Geburt nicht für möglich gehalten. Denn damals traf sie völlig unerwartet eine erschreckende Nachricht: Ihre Tochter hat Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt. Eine genetische Veränderung des Erbguts, die dafür sorgt, dass das 21. Chromosom dreifach vorhanden ist. Bei den vorgeburtlichen Untersuchungen gab es keinen Hinweis darauf. Der Schock war umso größer. „Es war wie das Ende der Welt für mich“, sagt die Mutter. „Ich war nicht fähig, irgendetwas zu fühlen. Ich war wie gelähmt. Plötzlich war mir mein eigenes Kind so fremd. Ich wusste einfach nicht, was das für uns alle bedeuten würde. Wird mein Kind je laufen, sprechen und lesen können? Wird es geliebt werden? Werde ich es je lieben? Ich hatte keine Hoffnung, dass wir weiterleben können wie bisher.“ Ihre Erfahrungen hat Evelyne Faye in dem Buch „Du bist da – und bist so wunderschön“ (www.dubistda.net) verarbeitet. Ein Kinderbuch für Erwachsene, das Hoffnung machen soll. Es handelt von Emma. Ihre Eltern haben Ängste und Sorgen, doch Emma weiß, dass diese unbegründet sind. Die Geschichte ist aus der Perspektive des kleinen Mädchens erzählt. Ihre Botschaft: Selbst wenn nicht alles nach Plan läuft, kann das Leben schön und voller Möglichkeiten sein. Das vermitteln auch die zauberhaften Bilder der Illustratorin Birgit Lang. Laut Schätzungen leben 8.000 bis 9.000 Menschen mit Trisomie 21 in Österreich. Jedes 700. bis 800. Baby weltweit kommt mit diesem Befund zur Welt. Etwa zwanzig sind es jährlich in Wien. So viele kommen zur Erstuntersuchung in die Down-Syndrom Ambulanz Wien in der Rudolfstiftung. Die pränatale Diagnostik kann das atypische Gen zwar anhand verschiedener Merkmale erkennen. Heilung verspricht das aber keine, da es sich hier nicht um eine Krankheit handelt. Die meisten Kinder mit einer frühzeitigen Trisomie-21-Diagnose werden erst gar nicht auf die Welt gebracht, denn 90 Prozent der Mütter entscheiden sich in diesem Fall für einen Schwangerschaftsabbruch.

Die Musik aus dem Kinderzimmer, das sich Emma und ihr Bruder Ian teilen, wird immer lauter. Sie hören „Peter und der Wolf“. Mit Gehopse, Gejaule, einem Tamburin, Xylophon-Klängen und dem Klock-Klock von Kastagnetten geben sie dem musikalischen Märchen ihre eigene Note. „Sie tanzen und musizieren gerne. Sie lieben Krach. Wir haben Glück mit den Nachbarn“, lacht Evelyne Faye – und ruft etwas auf Französisch ins Kinderzimmer. Die Musik wird leiser, die Instrumente auch. Zumindest für eine kurze Zeit. Emma und ihr Bruder wachsen zweisprachig auf. Deutsch und Französisch. Das passt, tragen sie doch ein Potpourri an Wurzeln der Großeltern in sich: Irland, Österreich, Senegal und Frankreich. Emma kann sich noch nicht sprachlich ausdrücken. Aber sie erfasst, was ihre Eltern von ihr möchten. Sie versteht, wenn sie gelobt wird, der Bruder genervt ist, sie ins Bett muss, und sie kann zeigen, was sie will. Dazu nutzt sie „GUK“, die Gebärden-unterstützte Kommunikation für Kinder. Sie hilft dem Mädchen, sich verständlich zu machen und ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Was Trisomie 21 für ihr Kind wirklich bedeuten würde, war den Eltern von Emma zu Beginn nicht klar. Sie sahen die Zukunft schwarz. Schnelle Recherchen im Internet ergaben, dass Menschen mit Down-Syndrom oft mit einem schweren Herzfehler zur Welt kommen. Dass die hier notwendige Herzoperation mittlerweile meist gut verläuft, erfuhren sie erst später. Auch dass sich Lebensqualität und geistige wie körperliche Entwicklungschancen innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre für Menschen mit Down-Syndrom erheblich verbessert haben, war ihnen zunächst nicht klar. Sie lernten: Menschen mit Trisomie 21 leiden nicht an ihrem Syndrom. Jedoch sind sie anfälliger für Fehlfunktionen der Schilddrüse, Infekte und Veränderungen im Magen-Darm-Bereich. Regelmäßige Routinekontrollen und Therapien können diese Risiken mittlerweile jedoch erheblich minimieren.

Der 39-jährige Spanier Pablo Pineda ist der erste Europäer mit Down-Syndrom, der ein Uni-Diplom (Pädagogische Psychologie) in der Tasche hat. 2010 lief seine Lebensgeschichte im Kino. Im Film „Me too – Wer will schon normal sein?“ (Originaltitel „Yo También“) spielte er selbst die Hauptrolle. Heute begeistert Pineda weltweit mit Vorträgen. Eine seiner Botschaften an Eltern mit Down-Syndrom-Kindern: „Verhätschelt eure Kinder nicht, ihr dürft ihnen nicht alles abnehmen.“ Pineda ist ein Ausnahmetalent. Doch er zeigt, was möglich ist. So wie jeder andere Erfolg – etwa Schulabschluss, Führerschein oder einen Job zu ergattern. Menschen mit Down-Syndrom und ihre Familien brauchen Perspektiven.

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Der Alltag der Familie besteht aus vielen zusätzlichen Wegen – Emma verbringt viel Zeit bei Ärzten, Logopäden und Physiotherapeuten. Aber die Vorsorgeuntersuchungen und Therapien gehören einfach dazu. „Es ist manchmal ein logistischer Wahnsinn, aber man wächst da hinein“, sagt Evelyne Faye. Und ihr Mann fügt hinzu: „Natürlich ist einem das manchmal auch einfach zu viel. Aber ich halte mich an die Dinge, die mir Hoffnung geben.“ An einem der letzten goldenen Herbst-Wochenenden im Oktober waren sie wandern. Emma durfte auf Papas Rücken, hat aber immer wieder einen Teil des Weges selbst zurückgelegt. Schritt für Schritt. „Seit Juni kann sie zu Fuß von der U-Bahn bis zum Kindergarten gehen“, erzählt Philipp Horak stolz. „Und gestern waren wir gemeinsam im Gasthaus. Die Pommes hat Emma ganz alleine gegessen, jede Einzelne richtig schön in den Ketchup getunkt.“ Löffel und Gabel verwendet sie auch schon. Nein, das ist nicht selbstverständlich. Nichts ist selbstverständlich. Und ja, es ist so, dass man jeden Mini-Meilenstein bejubelt wie eine Sensation. „Man lernt zwar, dass alles kommt, wie es kommt und nichts allgemeinen Regeln folgt. Umso schöner ist es aber auch, wenn sich wieder etwas weiterentwickelt.“ Die Mutter hebt ihre Tochter in den Kinderhochsitz am Küchentisch und sagt: „Wir erleben Glück, echtes Glück.“ Menschen, die das Down-Syndrom haben, sind bis heute mit Vorurteilen im Alltag konfrontiert. Das äußert sich oft in Spott, Mitleid, Unverständnis und Ausgrenzung. So arbeiten sie überwiegend in geschützten Werkstätten und gehen einer Tätigkeit nach, die nicht immer ihren Fähigkeiten entspricht. „Es ist schwierig, die Vorurteile aus den Köpfen rauszukriegen. Wer noch nie Kontakt zu Menschen mit Down-Syndrom hatte, hat einfach meistens ein völlig falsches Bild von ihnen. Das ging mir früher selbst nicht anders“, sagt Maria Großauer vom Netzwerk Down-Syndrom Österreich, selbst Mutter eines Sohnes mit Trisomie 21. Dabei ist vieles im Wandel. So ist mittlerweile bei entsprechender Förderung nicht nur ein Schulabschluss möglich, sondern auch die Ausübung eines Berufs. Und für immer mehr der Betroffenen ist es wahrscheinlich, Fähigkeiten zu entwickeln, die ein selbstbestimmtes, selbstständiges Leben weitgehend ermöglichen. Das macht Eltern Hoffnung, auch wenn es Fälle gibt, wo Menschen mit Trisomie 21 auch als Erwachsene der Fürsorge eines Kleinkinds bedürfen. Die Entwicklungschancen sind sehr individuell.

Letztendlich wird es darum gehen, den Menschen auch in seinen begrenzten Möglichkeiten zu akzeptieren. Der Griff nach den Sternen ist erlaubt. Positive Vorbilder wie der Spanier Pablo Pineda -– ein Ausnahmetalent – sind wichtig. Sie helfen Eltern, unterschiedliche Begabungen und Talente bei ihren Kindern aufzuspüren, zu unterstützen und Grenzen auszuloten. Psychologin Karin J. Lebersorger von der Down-Syndrom Ambulanz: „Hier ist die Empathie der Eltern wichtig. Denn das darf nicht in Überforderung münden. Sonst haben die Kinder das Gefühl, dass über sie bestimmt wird. Dann funktioniert gar nichts mehr.“ Manchmal nervt Emma ihren großen Bruder Ian, trotzdem bleibt er immer rücksichtsvoll, sagen die Eltern. Die kleine Schwester himmelt den Bruder an, will alles spielen, was er spielt, aus seinem Glas trinken, verfolgt ihn überall hin, so gut das mir ihren kleinen Füßen eben geht. Und jetzt will sie ein Stück von seinem Kuchen. Alle sitzen beisammen am Tisch. Sie streckt ihre linke Hand aus. Der Fünfjährige versteht, schneidet ihr ohne zu zögern ein kleines Eck vom Kuchen runter. Ob es sie wohl stört, dass er ihr das bereits angebissene Ende reicht? Sie lächelt, als sie es in den Mund steckt, darauf herumkaut und hinunterschluckt, dann führt sie ihre beiden Hände vor dem Körper zusammen, bis die Fingerspitzen einander berühren. Das heißt, sie will mehr davon. Okay, noch einen kleinen Bissen, den Rest verschlingt Ian dann selbst. In der Kinderkrippe, in die Emma seit einem Jahr geht, ist sie derzeit das einzige Kind mit Down-Syndrom. Der große Bruder geht ins Lycée. Die Mutter arbeitet wieder im Personalwesen einer internationalen Organisation und der Vater ist freier Fotograf. Das ist zwar manchmal eine große Herausforderung für alle Beteiligten, aber es funktioniert. Für Emma die Gelegenheit, mit anderen Kindern zusammenzukommen. Und mit ihnen Erfolgserlebnisse zu teilen. Die Kinder mögen sie. Die Mädchen haben sie sogar bei den ersten Gehversuchen an die Hand genommen und unter großem Applaus angefeuert. In der Kinderkrippe ist man angetan davon, wie offen die Kleinen aufeinander zugehen und wie Emma von den anderen unterstützt wird. Berührungsängste kennen die Kinder nicht. Und sind auf dem besten Weg, diese erst gar nicht zu empfinden. Evelyne Faye ist heute überzeugt, dass es ihr sehr geholfen hätte, schon früher mehr über Trisomie 21 zu wissen, über die Chancen und Möglichkeiten. Oder zumindest gleich nach der Diagnose den Zugang zu etwas zu haben, dass ihr einen Funken Hoffnung gegeben hätte. „Wenn ich geahnt hätte, dass das alles nicht so schlimm ist, wenn mir jemand in der ersten Zeit kurz und mit einfachen Worten hätte erklären können, was wir für Perspektiven haben, wäre vieles einfacher gewesen“, sagt sie. Auch deshalb hat sie ihr Buch geschrieben. Um anderen Mut zu machen: „Es ist die Angst vor dem Unbekannten und dem Unwissen, die einen behindert.“ Die kleine Emma zeigt ihren Eltern täglich, dass die Zukunft alles bringen kann. Sie hat keine Angst. Sie ist einfach da.

♦ Menschen mit Down-Syndrom haben eine Lebenserwartung zwischen 60 und 70 Jahren. Das Syndrom selbst ist nicht medizinisch behandelbar. Durch Physiotherapie, Frühförderung und Logopädie lassen sich jedoch die kognitiven Fähigkeiten erheblich verbessern.

♦ Oft wird die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom von der Außenwelt als Bürde empfunden. Die meisten Eltern erleben ihr Kind aber nach einer schmerzhaften Anfangszeit als positive Herausforderung. Menschen mit Down-Syndrom und deren Familien brauchen kein Mitleid.

♦ Eine Studie an der Harvard University hat ergeben, dass fast alle Menschen mit Down-Syndrom sehr zufrieden mit ihrem Leben sind. Über 90 Prozent der Befragten gaben auch an, sich selbst und ihr Aussehen zu mögen und ihre Familie zu lieben.

♦ Trotz gewisser Ähnlichkeiten untereinander sind Menschen mit Down-Syndrom sehr verschieden. Es sind einzigartige Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Temperament und kognitiven Fähigkeiten. Ihre Gefühlswelt ist dieselbe wie bei allen Menschen. Pubertät und der Einstieg ins Erwachsenenalter erfolgen zwar später, doch Liebe, Anerkennung und Angenommenwerden ist für sie genauso wichtig wie für jeden anderen auch.

Hilfe & Beratung: In der Down-Syndrom Ambulanz der Wiener Rudolfstiftung (ärztliche Leitung: Bettina Baltacis) beraten und unterstützen Fachleute aus den Gebieten Medizin, Psychologie und Sozialarbeit Menschen mit Down-Syndrom, ihre Familien und Angehörigen, www.down-syndrom-ambulanz.at

Noch mehr Hilfe: Das Netzwerk Down-Syndrom Österreich unterstützt mit Informationen und Austausch. Nach dem Motto „Alles, außer gewöhnlich!“ gibt es demnächst auch einen Benefiz-Abend: Besondere Exponate prominenter Österreicher werden versteigert: Robert Palfrader, Erwin Steinhauer, Thomas Maurer u. a. hautnah erleben. Im Studio 44 der Österreichischen Lotterien, 18. 11. 2014, 18.30 Uhr, mehr Infos unter: www.down-syndrom.at

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