Das Buch meines Lebens: Donna Leon

 
über "Große Erwartungen“ von Charles Dickens

Vor 30, 20, ja sogar vor 10 Jahren wäre meine Antwort bestimmt anders ausgefallen. Aber ich realisiere, nachdem ich es unlängst zum 4. Mal gelesen habe, dass Dickens’ „Great Expectations“ eines der großartigsten Bücher meines Lebens ist. Es handelt davon, was es bedeutet, ein Gentleman zu sein und wie man einer wird. Es beinhaltet durchgehend echte und falsche Gentlemen. Einige der falschen sind reich und viele der guten sind arm. Somit legt das Buch nahe, dass der bloße Besitz von Vermögen in keiner Beziehung zum grundsätzlichen Wert einer Person steht. Dadurch, dass der Protagonist danach strebt, Gentleman zu werden, ist er zu grundsätzlichen Handlungen fähig: Er wird von alten Freunden bloßgestellt, verschleudert sein Geld, führt ein Leben von anmaßender Falschheit. Schließlich aber, nach vielem Leid und viel Barmherzigkeit, wird er in der Tat zum Gentleman. Das Buch zeigt uns auch, dass der Wunsch nach Rache in die Zerstörung führt und den Untergang von Unschuldigen zur Folge hat. Magwitch sucht Vergeltung und stirbt daran; Miss Havisham wird betrogen und nimmt dies als Rechtfertigung, die einzigen Menschen, die ihre Liebe verdienen, schlecht zu behandeln. Das Buch ist auch ein lehrreiches Beispiel für meisterhafte Komposition eines Plots, anmutig-klare Prosa und Personenzeichnung. Kurz, es lehrt, wie eine Geschichte zu erzählen ist.

* Das aktuelle Buch der in Venedig lebenden US-amerikanischen Schriftstellerin: „Das goldene Ei“, Commissario Brunettis zweiundzwanzigster Fall, Diogenes Verlag, www.donnaleon.net,Leseprobe unter www.diogenes.ch

Das Buch meines Lebens: Donna Leon
Das Buch meines Lebens: Donna Leon

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