Ruhe bitte

Vor zehn Jahren erschien ein Buch mit dem Titel "Die Wüste Internet". Autor war der Cyberspace-Pionier Clifford Stoll. Seine Botschaft: "Das Leben spielt sich nicht auf dem Bildschirma ab, sondern in der echten Welt."
Facebook, Twitter und Co. fordern ihren Tribut: News und Narzissmus rund um die Uhr machen Stress. Ist in Zeiten ständiger Verfügbarkeit Entspannung überhaupt noch möglich?

Da soll sich noch einer auskennen. Hier Panik vor der totalen Überwachung durch das Internet, dort die Eröffnung des ersten Twitter-Hotels der Welt. Hier das scheinbar willkommene Piepsen und Bimmeln aus Handys und in Autos, dort der Ruf nach mehr Ruhe und Rückzugszonen. Aber ist es überhaupt noch „in“, „Stopp“ zu sagen? Darf man wagen, auf eine Auszeit von der permanenten Vernetzung zu beharren?

Anonymität im Netz ist eine Illusion. Spätestens seit dem Skandal um das ÜberwachungsprogrammPrism“ gilt das als fix. Doch wie schaut es mit einer Gebrauchsanweisung zur digitalen Selbstverteidigung aus? Kann die Suche nach einer„Stecker ziehen“-Strategie die richtige Antwort darauf sein?

Es wird jedenfalls immer schwieriger, sich aus dem Voranschreiten der Gegenwart auszuklinken. Die Urlauber, die freudig davon berichten, wie erholsam ein paar Tage ohne Smartphone, Computer und Sat-TV sind, dürften bald der Vergangenheit angehören. Das 4-Sterne-Hotel Sol Wave House auf Mallorca könnte zeigen, wie der Urlaub der Zukunft aussieht. Dort werden die Gäste via Twitter miteinander vernetzt – zum Flirten, Partymachen und damit nur ja keiner etwas solo unternimmt. Hoteleigene Hashtags wie #TwitterPoolParty sollen Stimmung machen. Na dann, Prost. Wer keine Animation braucht, um sich wohl zu fühlen, muss sich eben zurückziehen – vielleicht in seine eigene kleine Welt. Bitte, auch das ist kein Problem.

Renzo Piano, der 75-jährige Architekt aus Genua, der sich einen Namen mit Großbauten wie dem Kulturtempel Centre Pompidou in Paris gemacht hat, geht mittlerweile den umgekehrten Weg. Sein Miniaturhaus „Diogene“ umfasst auf bescheidenen 2,40 mal 2,96 Metern Grundfläche ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Bad.

Genügend Platz also, um ein bedürfnisloses Leben wie einst der antike Philosoph Diogenes im Fass zu führen. Freilich mit dem Unterschied, dass es die Technik heute locker ermöglicht, von meterhohen Bücher-, CD- und DVD-Regalen gänzlich auf eine Platz sparende eBook- und Cloud-Existenz umzusatteln. Askese 2.0 eben. „Diogene“, das bisher kleinste Gebäude Renzo Pianos, gilt zugleich als das bisher größte Produkt des Schweizer Designunternehmens Vitra. Die einfache Version soll 20.000 Euro kosten, die Luxusausgabe 50.000 Euro. Fehlt nur noch das Rasenstück, auf dem man das mobile Häuschen verankert.

Schon im kommenden Jahr soll die moderne Interpretation der guten alten Schrebergartenhütte in Serie gehen. Dass man darin nicht ein Leben lang wohnen könne, sagt selbst der Architekt. Eine Zeit lang jedoch sei es durchaus eine Überlegung wert. Vielleicht, um sich zurückzuziehen und ein Buch zu schreiben ...

Vor knapp mehr als 80 Jahren brach für manche Männer die Welt zusammen, als sich eine britische Schriftstellerin erdreistete, „ein eigenes Zimmer“ zu fordern. Virginia Woolf war das. Sie erkämpfte sich mit dem eigenen Zimmer, diesem Stück Privatheit, eine Unabhängigkeit, die damals selbst für Frauen der besseren Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit war.

Bücher, Tagebücher, Botschaften, Short Messages. Längst braucht man keinen bestimmten Ort, um sich mitzuteilen. Was man benötigt, und das gehört zum modernen Leben schon so fix wie ein Wasseranschluss, ist Zugang zum globalen Netz.

Das Internet ist seit gut zwei Jahrzehnten Bestandteil der realen Welt. Sich dort häuslich einzurichten, bleibt zwar nicht mehr ganz privat. Andererseits war die Vorstellung auch wirklich überzogen, dass uns gerade das Internet alle zu Freunden machen könne.

Britische Forscher haben jüngst herausgefunden, dass etwa exzessives Posten von Fotos in Facebook-Alben den Verfall von echten Freundschaften im echten Leben begünstigt. Studienautor David Houghton: „Außer wirklich engen Freunden und Verwandten scheinen die Leute diejenigen, die ständig Fotos von sich teilen, nicht wirklich sympathisch zu finden.“

Herr Androsch, wie wichtig ist Ruhe für unser Wohlbefinden?
Weniger als man meint. Wir können auch inmitten einer lauten Umgebung zur Ruhe kommen. Denken Sie an eine italienische Familie, die bei allem Lärm immer etwas Idyllisches an sich hat. Auffällig ist, dass das Bedürfnis nach Ruhe in Krisenzeiten zunimmt.

Demnächst soll uns 3D-Sound aus Kopfhörern zu neuen Klangerlebnissen verhelfen. Zugleich kommen immer mehr Kopf- und Ohrhörer mit Noise Cancelling, also der Fähigkeit, Geräusche zu eliminieren, auf den Markt. Wie passt das zusammen?
Eigentlich gar nicht, denn der Hörsinn ist per se unser sozialster Sinn. Mit ihm positionieren wir uns in der Welt. Durch das Aufsetzen eines Kopfhörers schotten wir uns eher von ihr ab. Aber als Musiker habe ich volles Verständnis dafür.

Halten wir angesichts der ständigen Berieselung mit Klängen und Musik pure Ruhe noch aus?
Wann wird Stille zur Grabesstille? Ich unterscheide Ruhe von Stille. Ruhe ist ein Zustand der Ausgeglichenheit. Stille hingegen ist unnatürlich. Es ist immer irgendwo irgendwie ein Laut zu hören. Ruhe andererseits wird immer mehr zu einem wirtschaftlichen Gut. Einfaches Beispiel: Immobilien in guter Lage, also Ruhelage, haben ihren Preis.

Wie viel muss uns Ruhe wert sein?
Al Capone, der Gangster, war einer der ersten, der auf die Idee kam, Ruhe zu verkaufen. Als Vater des Jukebox-Business platzierte er in den 1930er-Jahren eine geräuschlose Platte in den Musikboxen. Drei Minuten Ruhe kosteten ein paar Cent. Um in einer lauten Bar auf ein paar stille Momente zu kommen, reichte das. Lebt man heute in einer urbanen Umgebung, muss man meist weit fahren, um einen Ort zu finden, an dem die Ruhe einen Wert hat. Andererseits kommt totale Stille auch einer Folter gleich.

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