Kurzes Glück

Herr Martin, der Portier, ist Chef über ein so diffiziles wie fragiles System, in dem Touristen und kurzfristig Liebende zufrieden sein sollen.
Es ist ein Haus für gewisse Stunden. Die einen suchen nur eine kleine Ablenkung, für andere ist es längst ein Ort, an dem sie sich wie daheim fühlen. Obwohl eigentlich ganz sicher noch nie jemand dort war, Gott bewahre! Ein Tag in einem Wiener Stundenhotel.

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5,30 Uhr, während Wien langsam erwacht, bereitet sich ein kleines Hotel gewissenhaft auf einen Tag der Liebe vor. Nichts Besonderes in der Bahngasse 1A, hier ist jeder Tag den prickelnden Freuden der Zweisamkeit gewidmet – die „Goldene Spinne“ ist ein Stundenhotel. Eines der ältesten der Stadt. Frau Ilda, die Hausdame, ist mit dem Frühstücksbuffet fertig, bringt noch den Eierkocher auf Temperatur. „So“, sagt sie dann, „jetzt geht’s in die Zimmer. Bereit?“ Ilda hat vor 14 Jahren als Zimmermädchen angefangen, nachdem sie mit ihrer Familie vor dem Krieg in Bosnien flüchten musste. Ihr erster Job. Sie blieb dabei.

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Hatte sie nie Bedenken wegen der Art des Hauses? „Anfangs hatte ich ja keine große Auswahl“, sagt sie, während wir ins erste Zimmer gehen, rot, mit einem verspielten Glasluster und einem riesigen runden Bett. „Und mittlerweile fühle ich mich sehr wohl. Es passiert ja nichts, was nicht in anderen Hotels auch passiert, jede Nacht, jeden Tag. Wir müssen halt öfters die Zimmer machen.“ Der Fernseher läuft, Taylor Swift singt „Trouble, trouble ...“, zerwühlte Laken auf dem Bett, die Tür zum Bad steht offen. Kein Schrank? Ilda lächelt. „Nein“, sagt sie, während sie rasch zwei leere Dosen Red Bull in den Müllsack wirft und das Leintuch abzieht, „Schränke brauchen unsere Gäste in diesen Zimmern nicht.“ In diesen Zimmern – ein Hinweis auf eine Besonderheit der „Spinne“. Hier treffen ganz normale Touristen auf liebeshungrige Einheimische. Die Zimmer im Erdgeschoß und Mezzanin sind für Schäferstunden reserviert, weiter oben wohnen kulturbeflissene Japaner, deutsche Städtereisende und Amerikaner auf Good-Old-Europe-Besuch. Eine prickelnde Mischung – und vielleicht ist es ja genau diese ungewöhnliche Atmosphäre, die viele der Urlauber zu Stammgästen macht. Sie heißen „Bleiber“, um sie von den anderen zu unterscheiden. Den Liebenden? Den Vorübergehenden? „Wir haben Pärchen, die seit 15, 20 Jahren regelmäßig kommen“, wird mir Michael D., der Geschäftsführer der Spinne, später erklären. Manche Affären halten länger als viele Ehen ...Aber wer sind sie eigentlich, die Menschen, die einander hier treffen, um Sex zu haben? „Ach, das kann ich Ihnen nicht sagen“, sagt Ilda, „das geht mich nichts an.“ Sie putzt das Bad mit der großen Jacuzzi-Wanne, Waschbecken, WC, wischt den Boden und die Nachttischchen, poliert den großen Spiegel am Kopfende des Bettes, leert den Abfalleimer, wo ich unter zerknüllten Papiertaschentüchern das ein oder andere Präservativ vermute. Dezent.

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Womit hab ich gerechnet? Mit zerrissenen Laken und gebrauchten Gummis auf den Lampenschirmen? „Manchmal schaut es schon ein bissl ärger aus“, erklärt Ilda. Kommt immer drauf an, wie viel getrunken wurde. Bei Paaren, die eine härtere Gangart pflegen, ging früher auch immer wieder etwas zu Bruch. Vor drei Jahren wurde renoviert, die Betten hat man verstärkt. Manche, wie das im anthrazitfarbenen strengen Zimmer haben einen bedienerfreundlichen Stahlrahmen, aber auch die schwarz lackierten Bauernbetten mit dem im Himmel eingebauten Spiegel dürften nicht nur für neue Perspektiven sorgen, sondern scheinen zudem äußerst robust. Die SM-Spiele mögen gelingen ...Ilda saugt den Teppichboden, sie arbeitet gründlich – und schnell. Wozu die Eile? „Wir haben oft sehr frühe Gäste“, sagt sie. Gerade am Montag. Und tatsächlich, noch ehe sie mit ihrem letzten Zimmer fertig ist, sind die ersten beiden schon belegt. Es ist knapp nach sieben Uhr. Für sechs Stunden sind die Zimmer zu zahlen, sie kosten zwischen 39 und 81 Euro. Ein Pärchen will zur Stärkung erst einmal Frühstück aufs Zimmer. Rohschinken, Mozzarella, Schafskäse, Gebäck und Kaffee. Ilda geht nie weiter als bis zur Türschwelle. „Ich mag nicht ins Zimmer“, sagt sie. Denn was dort passiert, gehe sie nichts an ...

Kurzes Glück

Wer besucht um Montag in aller Hergottsfrüh ein Stundenhotel? Liebespaare, die ein viel zu langes Wochenende getrennt waren, weil sie zwei Tage mit ihren Familien verbringen mussten? „Das ist gut möglich“, sagt Martin, der Portier, „aber es ist nur Spekulation. Genau wissen's nur die beiden.“ Martin ist seit 17 Jahren in der Goldenen Spinne, davor war er vier Jahre im Hotel Sacher. Er wird mich heute offiziell als Portier einschulen, um meine Anwesenheit zu rechtfertigen. Zwei Besonderheiten gleich vorweg: Kein Gast wird jemals außerhalb des Hotels begrüßt – wir dürfen uns nie an einen erinnern. Und: Die Arbeit ist etwas diffiziler als in normalen Hotels, weil nicht nur Zimmergrößen, sondern auch allerlei Extras zu berücksichtigen sind. Romantisch oder streng, mehr oder weniger verspiegelt, mit Whirlpool oder spartanisch nur mit Waschbecken – zwei Zimmer wurden auf Wunsch von Stammgästen in der reduzierten Originalausstattung belassen. Etagendusche und WC gibt's deshalb, wie vor 100 Jahren, als die Spinne schon ein Stundenhotel war, auch noch am Gang. Ein nostalgisches Zugeständnis. „Neue Gäste pirschen sich da oft sehr vorsichtig an, was ihre Vorlieben anbelangt“, erklärt Martin. Eine seiner Aufgaben ist es, ihnen die Scheu zu nehmen. „Als Portier will ich, dass alle, die zu uns kommen, glücklich sind.“ Vorerst checkt aber einmal ein japanisches Touristenpärchen aus, erkundigt sich nach dem besten Weg zum Flughafen, ein älterer Amerikaner möchte Tipps für sein Vormittagsprogramm, Business as usual, wie in jedem Hotel der Welt.

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Um neun Uhr verlangt ein Herr im karierten Sakko resolut nach einem Spiegelzimmer, kaum hat er die Schlüsselkarte, stakst eine große Blondine in High-Heels an uns vorbei. Eher eine Geschäftsverbindung als ein Liebespaar? Herr Martin nickt. Nach einer halben Stunde, das Sieben-Uhr-Paar bestellt sich telefonisch gerade zwei Energy-Drinks, stöckelt die Blondine wieder Richtung Ausgang und gibt mir milde lächelnd den Schlüssel zurück. Schnelles Glück. Während die Jungs von der Reinigung tonnenweise Handtücher und Bettwäsche abholen beziehungsweise abliefern – „Wir brauchen schon ein bissl mehr Wäsch’ als andere Hotels“, sagt Martin – läuft schön langsam das Telefon heiß. „Für wann würden S' das Zimmer denn brauchen und wie lang?“, fragt Martin mit seiner unglaublich sanften Stimme. „Wenn Sie das Zimmer mit der schwarzen Bar möchten und den Termin verschieben könnten ...“ – „Ja, dann kann ich Ihnen auch den Mittwoch anbieten ...“ – „Nein leider, das mit dem Stahlrahmen ist da schon reserviert ...“ – „Am Donnerstag?“ – „Ja, Whirlpool hab ich dann auch. Gut, bis dann.“ Eine Schönheit mit dichter schwarzer Lockenmähne wartet völlig unverkrampft an der Portiersloge. Jeans. Daunenjacke. Lässig. Ihr Lieblingszimmer ist nicht frei, stellt Martin fest. „Egal, Hauptsache nach vorne raus“, sagt sie. Nein, Jacuzzi ist nicht nötig. Dusche reicht. Mit leichtem Nicken nimmt sie die Schlüsselkarte aus Herrn Martins Hand. Ohne Eile geht sie mit langen Schritten über den alten Terrazzoboden Richtung Treppe. Ihre Hand streicht leicht über das polierte Messing des Geländers. Eine mediterrane Liebesgöttin ... „Stammgast“, reißt mich Herr Martin aus meinen philosophischen Betrachtungen. Mit wem? „Verschieden“, sagt der Portier. Nicht viele Männer, aber doch. Einer ist der Favorit. Zehn Minuten später kommt ein großer, hagerer Kerl, Jack-Wolfskin-Typ. „22“, sagt Martin zu ihm, und zu mir, als er längst, zwei Stufen auf einmal nehmend, dort angekommen ist, wo er hin wollte: „Ja, das war er.“

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Ab zehn Uhr geht's immer runder, es kommen Paare jeden Alters, stoppelglatzige Sportlertypen und ältere Herren mit ihren Langzeitlieben, Geschäftsmänner mit Eskorte aus dem Osten. Ilda und ihre Damen servieren Tabletts mit Stärkungen, bringen dem Sieben-Uhr-Paar eine weitere Runde Energy-Drinks, servieren Sektgläser und frühzeitig geplünderte Erotik-Weihnachtskalender ab, putzen, schrubben, beziehen Betten neu. Ein junges Pärchen ist zum ersten Mal hier, der pudelbemützte 20-Jährige, dessen dunkelbraune Locken sich über den Rand der Strickhaube kringeln, erkundigt sich schüchtern nach den Preisen, seine blasse Freundin steht unsicher daneben und betrachtet eingehend die grüne Marmortäfelung des Aufgangs. „39 Euro?“, sagt er schließlich fragend. „Ja, aber das ist ohne WC und Dusche. Dafür müssen Sie auf den Gang“, sagt Martin. „Ist okay“, sagt der junge Mann und dann fragend, an seine Freundin gewandt: „Oder?“ Sie nickt. „Bankomat bitte“, sagt er. Hand in Hand gehen sie zum Aufzug.„Wollen Sie bei der Endkontrolle mitgehen?“, fragt mich Ilda. Es ist Mittag, um 13 Uhr ist ihr Dienst zu Ende, davor kontrolliert sie noch einmal alle freien Zimmer. Viel findet sie nicht, was ihr missfällt, einen Zahnputzbecher poliert sie nach, in einer Dusche fehlt ein Shampoo. Die Liebesarien aus den belegten Zimmern scheine nur ich zu hören. Als ich zurückkomme, erklärt mir Martin, warum manche Stammgäste die Zimmer „vorne raus“ bevorzugen. Die sind zwar lauter – aber man kann auch lauter sein, ohne aufzufallen.Ein älterer Herr kommt schwer schnaufend auf uns zu, der Weg zur Portierloge scheint ihn mitgenommen zu haben. „Wos, sechs Stund?!“, sagt er beinahe entsetzt. „Na, i brauch nur zwa. Ah, des kost’ gleich vü? Is a wurscht.“ Lacht, klemmt sich seine kleine blonde Begleiterin fest unter den Arm und kämpft sich weiter Richtung Aufzug. Eine braungebrannte Dame in den besten Jahren erscheint im Eingang und nähert sich zielstrebig. Ein wenig verzweifelt schau ich auf Herrn Martin, der über das Reservierungsbuch gebeugt eine telefonische Anfrage bearbeitet

Im 19. Jh. wurden im Café „Zur Goldspinnerin“ auch Zimmer vermietet. Johannes Brahms wohnte hier. Anfang des 20. Jhs. wurde die „Goldene Spinne“ zum Stundenhotel, in den 1970er-Jahren war es das größte der Stadt, besucht von den Damen des Kohlmarkts und ihren Freiern. Heute kommen hauptsächlich Paare, die zuhause nicht so können, wie sie wollen. Aus den verschiedensten Gründen ...

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Die Blondine ist angekommen und hebt fragend die Brauen. Ich fabriziere ein, wie ich hoffe, charmantes Begrüßungslächeln, das sie nicht sonderlich zu interessieren scheint. „Is der Meine scho da?“, fragt sie schließlich einigermaßen forsch. Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr weiter, mein Lächeln gefriert zu einem blöden Grinsen. „Äh…“ – „Leider nicht, Gnä' Frau“, taucht Martin in letzter Sekunde von seinen Büchern auf, „wollen S' warten?“ – „Geh, wieso. Des Zimmer werd i a no aussuchen können. Was habt's denn frei?“

Nach knapp sechs Stunden kommt die Pudelmütze mit Freundin die Treppe herunter. „Wiedersehen“, sagt er und zählt dabei die Reißverschlusszähne seines Anoraks. Das Mädel hat keinen Pferdeschwanz mehr, dafür einen Hauch Rosa auf den Wangen. Freut mich für sie. Kurz vor Dienstschluss erzählt mir Martin von einem Stammgast, den er kennt, seit er hier arbeitet. Er kommt für sechs Stunden, lässt sich zwei bis drei Flaschen Schampus kommen – und bleibt immer allein. Bis auf ein, zwei Mal, als er telefonisch einen Escort-Service bestellt hat, aber das ist schon viele Jahre her. Was er macht? Niemand weiß es. Vielleicht nutzt er den Gratis-Porno-Kanal auf den Zimmern, vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt die Realität einfach nicht an seine Fantasie heran. Welche Menschen ins Stundenhotel gehen? Unglaublich unterschiedliche. Interessante, merkwürdige, ganz normale. Und es sind ganz normale, interessante und vor allem sehr diskrete Menschen, die dafür sorgen, dass sie das können. Die Geschichten zu jedem von ihnen wären Stoff für etliche Filme und Bücher.

Aber: Diese Geschichten bleiben für immer Spekulation, um es mit Herrn Martin zu sagen. Wahrscheinlich sind sie deshalb so spannend.

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