Die Reportage: Mehr Glück geht net
Ein feiner Dunstschleier liegt über der Stadt. Wie ein Relikt aus einer anderen Welt steht der Fernwärmeturm im Morgennebel. Östlich davon tauchen schemenhaft die Hochhäuser der Donau City auf, Umrisse einer Geisterstadt. Vereinzelt ragen Kräne über die Skyline der Stadt hinaus. Riesig. Regungslos. Die fragilen Sauropoden der Neuzeit schlafen noch. Aber Zentimeter um Zentimeter steigt der orange glühende Ball der Sonne höher über den Horizont. Ein atemberaubender Anblick. 6.10 Uhr über den Dächern von Wien.
"A herrlicher Tog", sagt Herr Perchtold. "Solche Momente muss ma genießen – die gibt’s net oft. Denn wir sind ja auch hier heroben, wenn’s regnet, schneit, stürmt und friert. Was leider viel öfter vorkommt. Aber heut ist es der schönste Arbeitsplatz der Welt. "Schauen S’ nur", sagt er und deutet auf die endlose Stadtlandschaft unter uns, "viel mehr Glück geht net!"
Herr Perchtold ist Rauchfangkehrermeister. Mit seinen Kollegen Swen, Verena und Markus teilt er sich das erste Dach des Tages. Die sperrigen, zusammengedrehten Drahtbürsten, Ableingeräte und Kugeln sind geschultert. Die metallenen Rauchfangkehrerstege schwingen leicht unter den Tritten der Männer. Und der Frau. Wie kommt man eigentlich dazu, Rauchfangkehrerin zu werden – bei den meisten Männern scheint es ja so etwas wie eine über die Väter funktionierende Familientradition zu sein? "Nein, mein Papa war kein Rauchfangkehrer", sagt Verena, während sie sich behände auf einen Kamin schwingt. Breitbeinig steht sie in der Morgensonne, um die schwere Kugel hinunterzulassen. Die festen Stiefel geben ihr sicheren Halt. "Meine Mama hat bei einem Rauchfangkehrer im Büro gearbeitet. Der hat einen Lehrling gesucht. Ich hab mir das nach der Schule angeschaut und sofort gewusst: Das ist es. Weil in einem Büro sitzen, des wär einfach nix für mich", sagt sie und schüttelt lachend den Kopf mit der weißen Mütze. Wann sind eigentlich die eleganten Zylinder aus der Mode gekommen? "Zylinder gibt’s net", sagt Meister Perchtold, "nur auf die Marzipankollegen zu Silvester." Der Rauchfangkehrer sieht mich ernst an. Dann lächelt er. "Na, im Ernst – i bin seit über 20 Jahr Rauchfangkehrer, aber i hab noch nie an Kollegen mit einem Zylinder g’sehn. In Deutschland ham’s glaub i welche – stimmt’s Swen, du hast einen, oder?" – "Jaaa", kommt es gedehnt von dem baumlangen Mann, der gerade damit beschäftigt ist, eine überzählige Bodenplanke, die jemand achtlos auf einen Kamin liegengelassen hat, aus dem Gefahrenbereich zu entfernen. "Sie würden net glauben, was wir auf den Dächern so alles finden", sagt Meister Perchtold zu mir.
Swen kommt aus dem hohen Norden Deutschlands, aus Bad Segeberg. In Hamburg hatte er einen eigenen Betrieb. Und ja, er hat tatsächlich einen Zylinder. "Den setz ich aber nur zu ganz besonderen Anlässen auf. Zu Silvester zum Beispiel", sagt er und zwinkert fröhlich. Vor vier Jahren zog Swen nach Wien. "Ich war 50, hatte schon viel gesehen und erlebt. Als junger Mann bin ich auf der Walz durch ganz Deutschland gezogen, mit dem Motorrad war ich praktisch überall in Skandinavien – irgendwie dachte ich mir: Ich will noch mal was Neues versuchen." Und warum ausgerechnet in Wien? "Na ja, ich wollte schon in eine ,richtige’ Stadt, da ist die Auswahl dann nicht mehr so groß. Die Schweiz kam nicht in Frage, dort spricht man ja nicht deutsch." In Wien schon? "Jaaa, das funktioniert doch prima hier", sagt Swen, und ich bin mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm nimmt.
Auf dem Dach ist inzwischen klar Schiff, über eine an die Dachluke gelehnte Leiter kommen wir zurück ins Haus. "Die Arbeitsschwerpunkte haben sich in den letzten Jahren doch sehr verlagert", erklärt mir Swen. "Seit kaum noch mit festen Brennstoffen sondern mit Gasthermen geheizt wird, sind die Kamine ja nicht mehr so verschmutzt wie früher. Dafür sind wir aber für die Sicherheit in den Wohnungen selbst verantwortlich." Worum geht’s dann bei der Arbeit auf dem Dach? Mit den schweren Kugeln? "An der Kugel ist fallweise auch eine ,Bürste’ dran, also ein Sterngeflecht aus Federstahl. In erster Linie geht’s aber darum, sicherzustellen, dass der Abzug frei ist – sonst könnt’s nämlich gefährlich werden." Die Rauchfangkehrer überprüfen, ob sich Ziegel gelockert haben und in den Kamin ragen, abgestürzte Vogelnester oder tote Tiere den Fang verstopfen oder sich das ganze Objekt eventuell abgesenkt hat. Oft wurde in den Häusern ja auf eine weit mehr als 100-jährige Bausubstanz an- und draufgebaut, da kommt mit der Zeit doch einiges in Bewegung. "Das war übrigens doch eine ziemliche Umstellung für mich", sagt der Hamburger Rauchfangkehrermeister, "denn im Gegensatz zu Deutschland sind hier die meisten Kamine geschliffen. Bei uns poltert das schon mal ordentlich – hier brauchst du viel mehr Gefühl, um zu spüren, ob alles passt. Das habt ihr Österreicher im Blut, ich musste es mir erst aneignen." Swen zwinkert wieder, ich fühle mich trotzdem geehrt. Ja, ja, Gefühl hamma, jede Menge.
Meister Perchtold läutet an der ersten Wohnung im Dachgeschoss. Hauptkehrung, die Kohlenmonoxid-Werte der Thermen müssen gemessen werden. Er läutet noch einmal. Mit Nachdruck. Als er gerade an die Tür klopfen will, öffnet ein etwas verschlafener Herr im Morgenmantel. "Guten Morgen", sagt der Rauchfangkehrer. "Seid’s aber früh dran", sagt der Mann. "Hauptkehrung", sagt Meister Perchtold, "wären Sie bitte so freundlich, alle Fenster und Türen zu schließen? Abzugshauben und Abluftventilatoren bitte einschalten." Swen steigt auf die kleine Stehleiter und steckt die Mehrlochsonde des Messgeräts in die Therme. Alles klar, keine erhöhten Kohlenmonoxid-Werte, und auch wenn sämtliche Ventilatoren laufen, bekommt die Therme noch genügend "Verbrennungsluft", also Sauerstoff. Ist der Wert über 80 mg Kohlenmonoxid pro Kubikmeter, bekommt der Kunde eine Frist, in der er den Schaden beheben lassen kann. Liegt der Wert über 400 mg, muss der Rauchfangkehrer die Therme sperren. "Wissen S’, die Leut glauben manchmal, ich tu ihnen was zu Fleiß. Na, ich tu Ihnen nichts zu Fleiß, im Gegenteil – so eine schlecht gewartete Therme kann lebensgefährlich sein." Wir werden heute noch gut 70 Hausbewohner sehen, in Morgenmänteln und Trainingshosen, Anzügen und Business-Kostümen. Manchen ist es peinlich, aufgeweckt zu werden, manche sind deshalb einfach grantig, manche sind gestresst, weil sie weg wollten, Termine haben und warten mussten.
Swen wird ihnen allen mit norddeutscher Fröhlichkeit begegnen, Meister Perchtold mit typisch wienerischer Gelassenheit. Und einige Türen werden einfach verschlossen bleiben, trotz Klingeln, forschem Klopfen und dem Hinweis "Hauptkehrung – aufmachen bitte!". Und natürlich jede Menge Dächer. Ich hätte mir nicht träumen lassen, wie viele schöne Gärten es hoch über der Stadt gibt. Dachbodenausbauten, wo man hinsieht, großzügige Verglasungen, Fenster in Lebenswelten, von denen niemand etwas weiß. "Da sieht man wahrscheinlich einiges", sagt Jürg der Fotograf. "Wir schauen nicht. Und was wir sehen, bleibt hier oben", sagt Herr Perchtold, der Rauchfangkehrer. "Ich hab auf den Dächern der Reeperbahn gearbeitet", sagt Swen, "da könnt ich schon ein paar Geschichten erzählen, was da passiert. Zu jeder Tageszeit." Aber natürlich tut er das nicht.
Woher kommt eigentlich die Legende, dass es Glück bringt, einen Rauchfangkehrer zu sehen? "Na ja, durchs Verbrennen von Holz und Kohle waren die Kamine früher sehr verrußt, was oft zu Bränden g’führt hat", erklärt Meister Perchtold. "Aber viele Rauchfangkehrer hat’s net geben. Die sind herumgewandert, haben ihre Dienste angeboten. Wenn ma einen g’sehen hat, war’s a Glück." Die Rauchfangkehrer grinsen.
Beim letzten Haus, kurz vor 14 Uhr, stoßen Verena und Markus, die mit ihrer Tour schon fertig sind, wieder zu uns. Sie helfen mit, gemeinsam ist man schneller fertig. Vor der Haustür geht eine ältere Dame mit ihren Einkäufen an uns vorbei. Vier Rauchfangkehrer auf einen Schlag – man sieht, wie sie vor Freude schmunzelt. Sie wird langsamer, dreht sich noch einmal um. "Angreifen soll noch mehr Glück bringen", sag ich. "Ich hab eh dran gedacht, aber hab mich nicht fragen traut", antwortet sie. "Kommen S’ nur, i freu mich", sagt Meister Perchtold. Die Frau streift über seine schwarze Jacke, tätschelt ihm die Wange. "Na so was", sagt sie, "glei vier von euch. Mehr Glück geht ja net!"
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