Die Reportage: "Kemma endlich weiderfahrn!?"

Die Reportage: "Kemma endlich weiderfahrn!?"
Eine Kreuzfahrt der anderen Art: sieben Bezirke in 30 Minuten – der 13A ist nicht nur Wiens meistbefahrene Buslinie, sondern auch die spannendste. So etwas wie die „Streif“ der Busfahrer. Ein Lokalaugenschein.

Eines vorweg, nur damit niemand – und schon gar kein „Organ“ – auf falsche Gedanken kommt: Ich hab eine Jahreskarte. Ich darf also so oft mit dem 13A hin und herfahren wie ich will. Wirklich. Den Fahrer wundert's halt, wenn ich am Hauptbahnhof einfach im Bus sitzen bleiben. „'tschuldigung, hier ist Endstation. Es geht net weiter. Von hier aus fahr ich wieder z'rück“, sagt er geduldig. „Ich weiß“, sag ich. „Na, sie müssen's ja wissen“, sagt er und zuckt die Schultern.


Busfahren ist meiner Meinung nach die Königsdisziplin für die Fahrer der Wiener Linien. Und die Route des 13A ist so etwas wie die Streif der alpinen Abfahrer. Von der Alser Straße nach Favoriten, quer durch die Bezirke ohne Gleis und meist ohne eigene Spur, mitten durchs Verkehrsgewühl der Großstadt – mit einem zwölf Meter langen Bus. 13 Tonnen Eigengewicht. Das hat schon was. Durch schmale, verwinkelte Gassen, durch die sich manche PKW-Fahrer nur vorsichtig vorantasten. Dann wieder kurz raus auf die Weite der Wienzeile, nie versiegende Autoströme, ein bisschen Fluss. Imbiss-Buden, SportTipp-Cafes, Kristallleuchter- und Nähbedarfsgeschäfte in kleinen Straßen, die gar nicht so weit weg von der pulsierenden Lebensader der „Hilfer“ sind, und doch ein völlig anderes Universum darstellen. Und Nagelstudios. Ich wusste gar nicht WIE viele Nagelstudios es in den Nebenstraßen gibt...

Die Busse sind voll, praktisch immer, obwohl sie im 1-2-Minuten-Takt fahren, so sie nicht von einem Auto, das ein- oder ausparkt oder sonst irgendwie herumsteht, behindert werden. Die meistbefahrene Linie Wiens. „Bitte die Tür freimachen, Sie behindern die Weiterfahrt“, kommt es aus den Lautsprechern. Freundlichkeit von internationalem Format, erstaunlich. „Weg vo da Tier!“, hieß das früher, als ich noch der Liebe wegen öfter zwischen 9. und 6. Bezirk gependelt bin. Ein älterer Herr rückt Zentimeter um Zentimeter von der Problemtür ab. Zieht die missbilligenden Blicke griesgrämiger Geschlechtsgenossen, die ein wenig an lethargisch grantige Bulldoggen erinnern, ebenso auf sich wie die einiger Studentinnen, deren strahlenden Gesichter zeigen, dass sie noch die Welt verändern wollen. „Ich mach ja gar nichts“, murmelt der Herr hüstelnd. Endlich klappt es doch, die Tür ist zu.


Die Freude währt nicht lange, nur einige Meter weiter steht ein Auto mitten auf der Kreuzung. Ein Mann will seine Freundin abholen, aufreizend langsam geht die junge Frau in ihrem Minitrenchcoat auf den Wagen zu. Der Busfahrer stützt sich aufs Lenkrad, fährt sich mit der flachen Hand über Stirn und Schläfen. Seufzt. „Aufregen bringt gar nix“, wird Herr Wolfgang am nächsten Tag im Interview zu mir sagen. Seit 25 Jahren fährt er sämtliche Busse der Wiener Linien. „Weil Aufregen kostet Konzentration. Und die brauchma unbedingt. Außerdem geht's deshalb a net schneller. Die Leut tun mir halt leid, die mitfahren und vielleicht an wichtigen Termin haben. Aber i kann's net ändern – wenn's wo net weitergeht, geht's eben net weiter.“ Als Autofahrer und Freundin sich dann im PKW noch ausgiebig begrüßen, reicht es Wolfgangs jungem Kollegen dann doch, ein kurzer Druck auf die Hupe bringt die Sache endlich wieder ins Rollen, nicht ohne einen eindeutig unfreundlichen Fingerzeig aus dem Autofenster zu generieren allerdings. Der Busfahrer schüttelt nur den Kopf.

Auf Kontroversen können sich die Männer an den ausladenden Lenkrädern nicht einlassen. 60 bis 90 Minuten dauert eine komplette Runde mit dem 13A, nach zwei Runden dürfen sie sich eine Pause gönnen. Das bedeutet mehr als zwei Stunden allerhöchste Konzentration, Fingerspitzengefühl – und vor allem extrem vorausschauendes Fahren. Nur so ist gewährleistet, dass es nicht täglich kracht. Eigentlich eh ein Wunder. „Schauen S', wer am Steuer leicht die Nerven verliert, egal ob er aggressiv wird oder Angst kriegt, ist hier fehl am Platz“, sagt Wolfgang. Wie hat er das Trara um die Querung der Mariahilfer Straße miterlebt – die praktisch täglich geänderten Streckenführungen? „A geh“, sagt er und lacht. „Wir ham doch dauernd irgendwelche Umleitungen. Baustellen, umgedrehte Einbahnen – bei der Hilfer war's halt aus anderen Gründen ein großes Thema. Mir is des egal – ich schau mir die Strecke an, und die fahr ich dann.“
Was Wolfgang nicht egal ist: „Gschimpft wird halt immer mehr. Leider.“ Die Autofahrer werden aggressiver, natürlich. Aber auch die Fußgänger. Fährt der Bus jemanden vor der Nase davon, gibt's oft nicht nur lautstarke Flüche, sondern sogar Tritte. „Dabei sehn wir's in den meisten Fällen wirklich nicht“, erklärt Wolfgang. Zuerst wird der rechte Spiegel gecheckt. Immer wieder steckt jemand zur Hälfte unter dem Bus, weil er beim Aussteigen sein Feuerzeug oder etwas anderes verloren hat. „Sehr gefährlich“, sagt der langgediente Busfahrer. Dann kommt der Innenspiegel dran. „Ob jeder halbwegs auf seim Platzerl is.“ Dann der linke Außenspiegel. Gibt's eine Lücke im Fließverkehr, muss es schnell gehen. „Da schauma rechts gar nimmer.“

Sieht er den potenziellen Fahrgast doch und wartet, wird drinnen geschimpft. „Kemma endlich weiderfahrn!?“ Wolfgang zuckt die Achseln. Apropos Fließverkehr: Warum drängen sich alle Linienbusse eigentlich immer ausgerechnet vor mir aus der Haltestelle, wenn ich schon mal mit dem Auto fahr? „Die warten auf Sie, ham S' des net g'wusst?“ Die kennen mein Auto? „Wir ham ihr Autonummer!“, sagt Wolfgang und zwinkert. „Aber im Ernst: Des kommt jedem so vor. Subjektive Wahrnehmung. ,Genau vor mir muass der blede Bus außefahrn! Und dann fahrt er a no so langsam – extra! Der hätt mi do ruhig no vorbeilassn kennan!' Ja eh, nur irgendwann müssen wir halt auch wieder raus. Und wenn wir drauf warten, bis uns einer reinwinkt – dann wartma lang.“ Bei der nächsten Station heißt's dann: „Scho wieder Verspätung – a Frechheit, jetzt wart i scho a halbe Stund!“ Gar nicht so leicht, es allen Recht zu machen ...
An den Endstationen machen die Busfahrer jeweils einen Rundgang, um Vergessenes einzusammeln. Erstaunlich, was sie dabei alles finden. Also außer Journalisten, die eine Rundfahrt machen wollen. Schirme und Handys sowieso. Aber auch hin und wieder ein Baby im Kinderwagen. „Ich will niemand einen Vorwurf machen. Aber unglaublich ist es schon“, sagt Wolfgang. Vor zwei Jahren hat er eine Tasche mit beinahe 500.000 Euro gefunden. Selbstverständlich hat er das Geld sofort abgegeben. Eine Tat, die ihm sogar ein BBC-Interview beschert hat. Herr Wolfgang ist ein integrer Mann. Und ich bin beinahe froh, dass mir eine moralische Prüfung dieser Art bis jetzt erspart blieb.

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