Die nackten Engel der „Heiligen Allianz“

Hundert, zweihundert Jahre – und kein bisschen weise? Tatsächlich: Der Erste Weltkrieg begann bekanntlich 1914 mit den Schüssen von Sarajewo. Geht man aber noch einmal ein Jahrhundert zurück, stößt man auf das Jahr 1814 und die Napoleonischen Kriege, auf die Besetzung von Paris durch die verbündeten Armeen – und auf den „Wiener Kongress“ – ein Jahrhundertereignis.
Ins Geschehen mischte sich schon sehr bald ein brillanter, wenngleich zynischer Weltdiplomat des Habsburgerreiches: Clemens Wenzel Metternich, ein katholischer Deutscher vom Rhein mit absoluter Österreich-Loyalität. Jedoch: Wofür führte man überhaupt Krieg, wofür gab es schon damals über eine Million Gefallene – wofür waren Ideologien gut? Die vorherrschenden Wertvorstellungen der Zeit waren damals „Patriotismus“ und „Nationalismus“. Und was das Kaisertum Österreich betraf, so stritt man höchst intensiv um Lebensraum, religiöse Macht und Kulturwerte; und die historischen Zahnräder passten exakt zwischen Zeilen, Buchstaben und Wörter. 1814, 1914, 2014 …
Damals bildete aber auch die Sprache ein besonders wichtiges Motiv; noch hielt jedes Volk die eigene Kommunikation für elegant und literarisch. Das gilt auch für Prosa und Poesie, für das Musizieren und Singen, für Text und Takt. Und so sind bis heute die Franzosen uneingeschränkt und kompromisslos von der Schönheit ihrer Sprache überzeugt; die Deutschen hingegen bezeichneten sich selbst als „verspätete Nation“. Tatsächlich sprach man noch im Biedermeier zwischen Nordsee und Adria auch komplizierte Dialekte, ehe die Märchenbrüder Grimm die so genannte Germanistik erfanden und Konrad Duden ein Deutsch-Wörterbuch herausgab. Und anderswo? Die meisten Bewohner von Korsika mussten radikale Franzosen sein, weil sie in Wahrheit Italiener waren – auch der kleine Nabulione Buonaparte, mütterlicherseits Ramolino, der als Berufsoffizier später aller Welt beweisen musste, dass er ein glühender französischer Patriot war – ein republikanischer „Erbfeind“ für alles Deutsche. Napoleon und
Metternich – das waren bald die Antipoden Europas – Gegensatzpaare zwischen Atlantik und Schwarzem Meer.
Allerdings führte das ständige Kriegstreiben im Laufe der Folgezeit dazu, dass sich die Folgen für die europäische Wirtschaft immer dramatischer entwickelten. Es häuften sich die Zusammenbrüche von Wirtschaftsunternehmen; Bauern verließen Europa in Richtung Amerika; und am 20. Februar 1811 trat der Staatsbankrott Österreichs ein. Betrug im Jahr 1800 das sogenannte Agio 15 Prozent, erreichte es 1811 bereits 824 Prozent. Daher kann man sagen: Hätte es damals Meinungsforschung gegeben, wäre das Ergebnis von Befragungen für die Herrschenden katastrophal ausgefallen. So aber empfahl Metternich seinem Kaiser Reformen, deren wichtigste in der rigorosen Überwachung der Untertanen bestand. Es kam zu Verboten aller Art – zur Zensur von Büchern, Librettos, Liebesbriefen. Die aufkommenden deutschen Burschenschaften wurden als „Demagogen“ denunziert: Im österreichischen Italien verfolgte die berüchtigte Metternich-Polizei auch Carbonari, Garibaldiner und sonstige Aufsässige. Ansonsten machte Metternich landauf-landab bewusst, dass das Kaisertum an der Donau auch das Know-how für die größte europäische Friedenskonferenz besaß. Geld sollte keine Rolle spielen – und so nahm man den Spott in den Gassen Wiens auch gerne hin: „Der Kaiser von Russland liebt für alle; der König von Preußen denkt für alle, der König von Bayern trinkt für alle, der Kaiser von Österreich zahlt für alle …“
Am Höhepunkt des Wiener Kongresses standen gut hundert Räume in der Hofburg als Unterkünfte und Beratungsorte zur Verfügung, 300 Kutschen spielten „Taxi“, man arrangierte Reiterfeste, Empfänge – und eindrucksvolle Truppenparaden vor dem Lusthaus im Prater. Viele „gossips“ der Biedermeiergesellschaft verknüpften Politik und Privatleben, Diplomatie und Sexualität, selbsternanntes Kaisertum und intrigenbewusste Ministerschaft miteinander. Metternich selbst war drei Mal verheiratet: So mit der Österreicherin Kaunitz, der besten Partie von
Wien, war sie doch Enkelin des vormaligen Staatskanzlers. Sodann mit der Halb-Italienerin Leykam, die aus einer kunstsinnigen altösterreichischen Diplomatenfamilie stammte; und schließlich mit der verliebten Tochter des ungarischen Feldmarschalls Zichy-Vásonykeö, Kommandant Venedigs während der österreichischen Besetzung der Lagunenstadt.
Nun stammten aus den Lust-Beziehungen Metternichs 14 hochadelige eheliche Kinder. Und unbestritten war später dieser Nachwuchs besonders international – konkret: europäisch gefärbt.
Und schließlich gab es auch die Trendsetterinnen: So die Gräfin (später Fürstin) Dorothy Benkkendorf – Frau des russischen Botschafters in London mit dem Namen Lieven. Sie war eine Beauty dank ihrer besonders schmalen Körperlinien – zugleich aber auch beeindruckt vom Parfum des Bonvivants Metternich. Wilhelmine von Sagan trug den Titel einer Herzogin von Kurland (im Baltikum) und hatte sich zeitgerecht in Wien im Palais Palm einquartiert. Dort hielt ihr auch der fesche russische Zar das Händchen, als er ihr Etablissement zum politischen Salon erklärte.
Ein ähnlicher Star in den Palais war die „Schöne
Bagration“ – die 18-jährige Russin und Frau eines zaristischen Generals. Zwischen Paris, Wien und Preßburg war sie als „le bel ange nu“ gerühmt – als „nackter Engel“. Und tatsächlich kam neun Monate nach dem Kennenlernen just eine kleine
Clementine Bagration auf die Welt. Bravo, sagten die Wiener, die völlig im Taumel des Kongresses untergingen. Dennoch fand Metternich nicht bei allen Damen Licht am Liebeshorizont; zum Beispiel nicht bei die legendären Madame de Staël oder der Berliner Jüdin Rahel Varnhagen, die viel Zynismus über den Kongress und seine Akteure bereithielt: „Man amisör sich“. Einer der männlichen Gesellschaftslöwen, der Fürst De Ligne, prägte schließlich den historisch gewordenen Satz: „Der Kongress tanzt, aber er geht nicht.“
Das bemerkte auch Napoleon in seinem Exil in Elba; und entschloss sich zu einer geheimen Landung in Südfrankreich sowie zum Marsch nach Paris. Der Wiener Kongress wurde sofort abgebrochen und noch einmal sattelten beide Seiten ihre Pferde.
Die Sache ging für den Empereur schief. In der Völkerschlacht von Leipzig hatte er seine militärische Schwäche erstmals zur Kenntnis nehmen müssen, in Fontainebleau sagte er seiner „Alten Garde“ noch ein ausgiebiges „Adieu“. Die Szene wurde ein Rührstück für die vielen geheimen und offenen Anhänger des „Königs von Rom“. Dieser dreijährige Sohn einer österreichischen Mutter, Erzherzogin Marie Louise, und Napoleons konnte Frankreich in Richtung Wien verlassen. Fortan führte er ein kurzes und einsames Leben – frauenlos und krank in Schönbrunn. Napoleon hingegen unterlag in Waterloo, eine alliierte Armee marschierte wieder quer durch Frankreich – und Metternich stieg endgültig in den Olymp der europäischen Konservativen auf. Sein Zukunftskonzept für Europa war einfach und verstehbar zugleich. Metternich über das Übel der Übel: „Kein revolutionärer Geist mehr, geboren aus ordnungswidriger Unruhe …“
Er sagte das just dort, wo am Wiener Rennweg der Balkan beginnt – gleich neben der italienischen Botschaft, seinem Wiener Palais ...
Anders urteilte der beliebte Erzherzog Johann (und Bruder von Kaiser Franz): „Ein jämmerlicher Handel mit Ländern und Menschen“. Zwar nannte man das politische Ordnungssystem „Heilige Allianz“ – aber es ging weder um etwas Heiliges, noch um die Interessen der Gemeinschaft. Nicht weniger als 41 Teilstaaten blieben weiterhin Mitglieder des weiterbestehenden Heiligen Römischen Reiches.
In der Wiener Hofburg stritt man noch sechs Jahre über eine Rückkehr zu den alten Parlamenten, Landtagen, Senaten. Das war für alle das Wichtigste. Und so wurde der nächste Konflikt vorausgeplant. Metternich, ganz zum Österreicher und Reaktionär gewandelt, musste 1848 aus Wien fliehen; er ging nach England. Dort, im britischen Exil, wurde er zum souveränen Geschichtenerzähler seiner Generation – vor allem für die Frauen „a friend of good days“. Anderswo hielt man ihn für einen amüsanter Salonteufel. Die Französinnen nannten ihn den österreichischen „Ministre Papillon“; und für das einfache Volk war er der umstrittene „Kutscher Europas“ – und zwar aus Wien.
Der Kongresssaal im Bundeskanzleramt in Wien im Jahr 2014. Hier tagte in den Jahren 1814 und 1815 der Wiener Kongress, der heuer sein 200-jähriges Jubiläum feiert.
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