Die große Lust am Lesen: Alle Macht der Fantasie
Eigentlich hätte es eine Elegie auf die Isolation werden sollen. „Der Gesang der Flusskrebse“, die unglaubliche Geschichte des Mädchens Kya, das von Mutter und Vater verlassen, alleine in den Sümpfen North Carolinas aufwächst – und sowohl bei Burschen als auch Gesetzesparagrafen aneckt. Eine Zoologin hat sich die durchwegs spannende Story einfallen lassen: Die aus Georgia stammende Delia Owens, die mit ihrem Ehemann lange Zeit in Afrika verbracht hat – zwischen wilden Tieren und schwer zu zähmender Natur.
Nach den Jahren in der Fremde versuchte sich die Wissenschafterin als Schriftstellerin. Kein leichtes Unterfangen in einem Alter, in dem einen kein Verlag der Welt mehr als Jungautorin bewerben kann. Doch die Dame mit dem grauen Haar hat es dank dem Zuspruch der Leserinnen geschafft.
Hollywood klopft an
Alleine in den USA verkaufte sich das Jugenddrama trotz Null-PR-Budget mehr als viereinhalb Millionen Mal. Eine Filmversion ist im Entstehen, Hollywoodstar Reese Witherspoon hat sich die Rechte gesichert.
„Ich kann es kaum erwarten, Kya im Kino zu sehen“, sagt Autorin Delia Owens in einer Videobotschaft zu ihren Lesern. Und fügt hinzu: „,Der Gesang der Flusskrebse’ handelt zwar von Einsamkeit. Aber seit seinem Erscheinen habe ich mich nie mehr alleine gefühlt.“ Und genau das ist es auch, was gelungene Literatur auszeichnet. Sie vermag die Leser nicht nur zu unterhalten, sondern gibt ihnen auch das Gefühl, für sie da zu sein, ihnen eine Stimme zu verleihen, sie aus der Isolation abzuholen und sich womöglich via Buchklubs oder -foren mit anderen Lesern auszutauschen.
Leser halten auf Trab
Mag sein, dass Autoren und Autorinnen früherer Generationen nicht ungern eine Existenz im Elfenbeinturm kultivierten. Zeitgenössische Urheber wortgewaltiger Werke mischen sich lieber unter die Menschen. Derzeit sind Lesungen zwar tabu, aber als Ursula Poznanski vergangenen Herbst ihren Thriller „Erebos 2“ in München vorstellte, war die Buchhandlung am Stachus bis auf den letzten Platz gefüllt. Und die Verkaufsshow ab Punkt Mitternacht war ein echter Renner. Verständlich, die Autorin aus Wien wurde immerhin schon mit dem renommierten Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Krimipreis ausgezeichnet. Die dialogstarke Literatin und Mutter eines Sohnes weiß, wie dem Nachwuchs der Schnabel gewachsen ist. Und sie hält auch mit der sich ständig ändernden Technik Schritt.
Als Apps anfingen, den mediengesteuerten Alltag von Teenies immer mehr zu bestimmen und zu steuern, ahnte sie rechtzeitig, dass sie diesen Umstand auch in ihren aktuellen Thriller über ein manipulierendes Computerspiel einfließen lassen sollte.
Up do date, wo's nur geht
Selbstverständlich ist Ursula Poznanski auf Facebook präsent und hält auch ohne große Mithilfe von Literaturagenten Kontakt zu ihren Lesern. Dort beweist sie auch in für uns alle schwierigen Zeiten Humor. „Den Arbeitsplatz nicht zu nah am Kühlschrank aufbauen“, postete sie vor Kurzem als „Homeoffice-Tipp Nr. 1“.
Autorinnen von heute müssen up to date sein, wo immer es möglich ist. Selbst wenn sie wie Hilary Mantel in die Tiefen der Vergangenheit abtauchen. Die frühere Sozialarbeiterin und Filmkritikerin präsentierte Anfang März mit einem Riesen-Tamtam das Finale ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie, „Spiegel und Licht“. Eine gesamte Breitseite des Londoner Tower wurde dabei in eine vom Buchcover inspirierte Lichtinstallation gehüllt.
Weniger ätherisch geht es auf dem mehr als tausend Seiten wiegenden Wälzer ab. Ohne langes Vorspiel kommt die Britin auf den Punkt: mit einer kopflosen Anna Boleyn. Ein Schocker mit Schmäh. Gleich nach dem gefällten Urteil gegen die zweite von sechs Ehefrauen von Heinrich VIII. macht sich Unmut unter den Schaulustigen breit: „Aber wenn man bei einer Enthauptung nicht die Wahrheit sagen kann, wann dann?“ Schon die ersten beiden Teile der Chronik vom Aufstieg und Fall der rechten Hand des Königs gerieten zu Weltbestsellern. Die Royal Shakespeare Company adaptierte sie für die Bühne.
Von „Spiegel und Licht“ soll demnächst ein Version für die BBC entstehen. All dieser Erfolg verdankt sich der Macht ihrer Worte. „Hilary Mantel gelingt es wie wenigen Autoren vor ihr, die Vergangenheit lebendig werden zu lassen“, lobte eine Kritikerin. Ausschlaggebend dafür mag auch sein, dass sie - unüblich für einen historischen Roman - im Präsens schreibt.
„Großes Lesevergnügen“, „intelligent, fesselnd, faszinierend“, meinen dazu viele Leser. Und das ist nur ein ganz kleiner Auszug aus einem Bücherforum.
Bücher sind Überlebensmittel
Lesen. Für die einen ist das eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben. Andere empfinden den Kosmos zwischen zwei Buchdeckeln als angenehme Flucht vor der Welt – als Abenteuer im Kopf. Für den Schweizer Philosophen Peter Bieri ist es noch mehr, er attestiert Literatur sogar eine gewisse Form von therapeutischer Kraft. „Kunstvolle, literarische Erzählungen erinnern uns auf diese Weise an uns selbst und sind in diesem Sinne eine Quelle der Selbsterkenntnis“, meint er in seinem Aufsatz „Die Vielfalt des Verstehens“.
Auch das ist mit ein Grund, warum Leseratten gerade dieser Tage besorgt über den Nachschub sind. So auch Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels. Er findet naturgemäß, „dass Bücher kein Luxus sind, sondern Überlebensmittel – und das merkt man besonders in Krisenzeiten.“
Jetzt haben zum Lesen zwar viele schlicht das, was sonst fehlt – die Zeit. Leider aber haben die Buchhandlungen geschlossen. Der Onlinehandel ist in einer solchen Ausnahmelage ein willkommener Rettungsanker. „Die Umsatzrückgänge der Buchhandlungen und auch der Verlage sind derzeit existenzbedrohend“, klagt Föger. Aber es gibt Hoffnung. Die Online-Absätze vieler heimischer Verlage und Buchhandlungen steigen sprunghaft an. „Zum ersten Mal gelingt es ernsthaft, dem Versandriesen Amazon die Stirn zu bieten.“
Amazon die Stirn bieten
Ein Tipp: Viele Buchhandlungen, vielleicht auch in Ihrem Grätzel, machen derzeit Homeoffice. Wenn Sie also über keinen eReader von Tolino, Kindle oder Pocketbook zum Runterladen von Romanen verfügen, können Sie über die Homepages der einzelnen Händler Bücher per Post nach Hause bestellen.
Gewicht der WorteAber zurück zum eigentlichen Thema, zum Lesen. Wozu lesen wir überhaupt? Weil es bildet, weil es den Horizont und den Wortschatz erweitert. Und weil Lesen für viele Menschen wie Essen und Trinken zu ihrem Alltag dazugehört.
Dringlicher noch drückt es der isländische Schriftsteller Jon Kalman Stefansson („Das Herz des Menschen“) aus. „Hunde mögen der beste Freund des Menschen sein“, sagt er, aber: „Ohne Bücher wäre er ein Bestie.“
Na, bumm, ein harsches Urteil. Aber das erklärt vielleicht auch, warum Krimis und Schocker aller Facetten seit Jahren mit ungebrochener Leidenschaft verschlungen werden.
Krimi, Kitsch, Komik - und Kulinarik
Ein Blick in die Betsellerlisten zeigt, dass unser Leseverhalten zum Glück deutlich ausgewogener ist. In der Belletristik bewegt sich unser Beuteschema ohne großartige Präferenzen für ein bestimmtes Genre zwischen Krimi, Kitsch, Komik – und natürlich Kulinarik. Mitunter hat das alles zusammen sogar in einem einzigen Buch Platz – etwa in Rita Falks „Guglhupfgeschwader“.
Der überzuckerte Provinzkrimi aus Bayern belegt den ersten Platz der Jahresbestsellerliste 2019 des heimischen Buchhandels. Mit „Kopftuchmafia“ liegt der „Stinatz-Krimi“ des österreichischen Kabarettisten und Schauspielers Thomas Stipsits dicht dahinter. 25.000 verkaufte Exemplare ergeben Platin-Status. Das schreit nach einer Fortsetzung.
Bis es soweit ist, haben Freunde jeglichen Genres eine besonders schöne Aufgabe vor sich: lesen, lesen und noch einmal lesen. Denn sonst geht es einem wie dem Helden in „Das Gewicht der Worte“.
„Warum habe ich das nicht alles schon viel früher gelesen, warum weiß ich über diesen Planeten nicht viel besser Bescheid“, ruft Pascal Merciers Romanfigur einmal aus. Nicht verzweifeln. „Je tiefer man sich in die erfundenen Figuren hineindenkt, desto mehr hat man den Eindruck, ganz bei sich selbst zu sein“, so sein Alter Ego Peter Bieri.
+ Delia Owens, "Der Gesang der Flusskrebse", hanserblue, 464 S., Euro 22,70
+ Ursula Poznanski, "Erebos 2", Loewe, 512 S., 20,60,-
+ George Saunders, "Fuchs 8", Luchterhand, 56 S., 12,40,-
+ Pascal Mercier, "Das Gewicht der Worte", Hanser, 576 S., 26,80,-
+ Hilary Mantel, "Spiegel und Licht", dumont, 1104 S., 32,90
+ Monika Helfer, "Die Bagage", Hanser, 158 S., 19,60,-
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