Das neue Normal

Das neue Normal
Der Perfektionismus hat ausgedient. In der Mode trägt man Schlabberlook, im Fernsehen schämt man sich nicht für Speckrollen und die Werbung zeigt Models, wie Gott sie schuf. Warum denn erst jetzt?

Da staunte die Modewelt nicht schlecht, als Karl Lagerfeld Anfang März das Grand Palais in Paris zur Präsentation seiner neuen Kollektion in einen Supermarkt verwandelte. Die angesagtesten Models, wie It-Girl Cara Delevigne, schnappten sich einen Einkaufskorb, defilierten an der Käsetheke vorbei und präsentierten, quasi en passant, des Kaisers neue Kleider. Wer Lagerfeld kennt, weiß, dass der Meister nichts dem Zufall überlässt. "Mode ist ein Spiegel der Seele", meint auch Psychologin Natalia Ölsböck. Sie setzt sich für ihre Arbeit häufig mit Zeitphänomenen auseinander und weiß: "Designer holen sich ihre Anregungen von dem, was sie auf der Straße sehen."

Karl Lagerfeld kann keiner ein X für ein U vormachen. Der findige Designer hat die Sehnsucht nach dem Unperfekten aufgegriffen und seine Modeschau heuer in einen Supermarkt verlegt. Und erstmals in der Geschichte von Chanel durften die Models Turnschuhe tragen. Auch bei Lanvin zeigt man sich von der bequemen Seite: Der „feine“ Herr trägt im Moment Sandalen mit Socken. Waaaahhhhh!

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epa03768377 A model presents a creation from the Spring/Summer 2014 Men's Collection by designer Alber Elbaz for Lanvin during the Paris Fashion Week, in Paris, France, 30 June 2013. The presentation of the Men's collections runs from 26 to 30 June. EPA/CAROLINE BLUMBERG

Was dort seit geraumer Zeit vor sich geht, ist auch der New Yorker Agentur K-Hole nicht entgangen. Als sogar die Hipsten unter den Hippen irgendwann begannen, sich wie Hans und Helga Müller aus Gramatneusiedl anzuziehen, schritt die Trendagentur zur Tat. Sie ortete eine neue Strömung und gab ihr mit dem Begriff "Normcore" einen Namen. Das Worthybrid aus normal und Hardcore sagt nichts anderes aus als: Weg mit den Trendklamotten, her mit der Kaufhausware. Oder: Adieu Individualität und Exzentrik, hallo Normalität und Angepasstheit. Ein Wunsch, der dem aktuellen Zeitgeschehen entspringt (siehe Interview nächste Seite). "In der Mode wird das aber nur ein kurzer Trend sein", ortet Psychologin Natalia Ölsböck. "Die Trendsetter leben es jetzt aus, Schlapfen, weiße Socken und Sweatshirts anzuziehen. Doch das Geschäft ist schnelllebig und wird schon bald vom nächsten Trend abgelöst werden." Die generelle Tendenz zu einer neuen Natürlichkeit wird aber bleiben. Deutlich wird das auch, wenn man den Fernseher aufdreht. Was mit der Serie "Mad Men" und der kurvigen, also nicht dem Hollywood-Schönheitsideal entsprechenden, Hauptdarstellerin Christina Hendricks begann, findet derzeit in der Serie "Girls" seine Fortsetzung. Deren Aushängeschild Lena Dunham gilt als neue Normalo-Ikone und scheut sich auch nicht, abseits der Serie ihre Speckröllchen auf dem roten Teppich auszuführen. Während man beim Ersten-Mal-Hinsehen vielleicht noch die Nase rümpft – Stichwort: Perfekte-Körper-in-Serien-Gewöhnungseffekt – freut man sich beim zweiten Mal schon, dass man beim Fernsehschauen ab sofort den Bauch nicht mehr einziehen muss. Und wenn dann noch Katie Price, Ex-Boxenluder und Königin der Künstlichkeit, ihre Extensions aus den Haaren nimmt und ein Foto ohne Make-up auf Twitter postet, weiß man: Da ist etwas im Busch. "Das zeigt ganz klar, dass wir uns von dem Zwang entfernen, etwas Besonderes sein zu müssen. Das ist ja auch sehr anstrengend", erklärt Psychologin Ölsböck. "Worum es geht, ist eine große Sehnsucht zur Entwicklung von Gemeinschaft."

Wenn das kein Zeichen ist: Sogar Katie Price, 35, die Königin der Künstlichkeit, speckt ab. Ihr Motto: Oben ohne – Extensions. Auf Make-up verzichtet sie auch, zumindest auf einem aktuellen Twitter- Bild. Sehr hübsch!

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"K-Hole" formuliert es in seinem Trend-Bericht so: "Vor langer Zeit wurde der Mensch in eine Gemeinschaft geboren und musste seine Individualität suchen. Heute wird man als Individuum geboren und sucht eine Gemeinschaft." In einer Zeit, in der die (Groß-)Familie ausgedient hat, ein nachvollziehbarer Wunsch. So wie jener nach Liebe und Akzeptanz, dem die Kosmetikmarke "Dove" schon 2004 mit ihrer "Real Beauty"-Kampagne eine Plattform gegeben hat. Auf Plakaten waren Frauen zu sehen, die nicht dem Schönheitsideal 90-60-90 entsprachen. Die Mission dahinter: Frauen davon zu überzeugen, dass Schönheit ein weites Feld und immer nur eine Frage des Wohlfühlens im eigenen Körper ist. Zum Zehn-Jahres-Jubiläum der "Real Beauty"-Kampagne wurde vor Kurzem das jüngste Meisterstück aus der Dove-Werbeabteilung präsentiert. Es heißt zeitgemäß "Selfie" und zeigt Mütter und Töchter, die ihre Unsicherheiten im Bezug auf ihr Aussehen mit Hilfe von Selfies porträtieren. Im siebenminütigen Film ist auch zu sehen, wie die Bilder ausgestellt und von den Besuchern mit Post-Its beklebt werden. Darauf zu lesen: Komplimente für die Dargestellten, um ihnen die eigenen Vorzüge vor Augen zu führen, die sie vielleicht selbst nicht sehen. Der Kurzfilm wurde medienwirksam Anfang Jänner auf dem renommierten "Sundance"-Filmfestival präsentiert und fand so internationale Beachtung. Ein weiterer Meilenstein, um den Begriff Schönheit neu zu definieren.

Inzwischen hat "Dove", im Gegensatz zu früher, Verbündete. "Aerie", die Teenager-Unterwäschelinie des Moderiesen "American Eagle", hat seine aktuelle Frühlingskampagne ausschließlich mit Bildern von unretuschierten Models bestritten. Auf der Homepage heißt es: "Liebe Aerie Girls, wir glauben, dass es Zeit für eine Veränderung ist. Es ist an der Zeit, echt zu werden und echt zu denken. Wir wollen, dass sich jedes Mädchen gut fühlt, so wie es ist – innen und außen. Das heißt: Keine retuschierten Mädchen und keine Supermodels mehr. Warum? Es gibt keinen Grund, Schönheit zu retuschieren. Wir glauben, dass das wahre Du sexy ist."


So weit so gut, wären da nicht die Medien, die das Problem des „neuen Normal“ schon jetzt auf uns zurollen sehen. "Fällt denn niemandem mehr auf, dass es kaum noch Exzentrizität gibt? Dass kaum jemand noch den Versuch unternimmt, sich von den mittleren Lebenswegen abzuheben und vom Mittelmaß abzustoßen?", schreibt etwa die "Welt". Was beweist, dass "die Gesellschaft" es nie allen wird recht machen können. Doch so lange es Lady Gaga und Beyoncé gibt, die nach wie vor überwachen, welche retuschierten Bilder von ihnen an die Medien gehen, müssen wir uns um Exzentrik wohl keine Sorgen machen. Genießen wir die Normalität, solange das in dieser verrückten Welt noch geht.

Buchtipp: Mit Leichtigkeit sorgenfrei, fröhlich und unbeschwert leben von Natalia Ölsböck, erschienen im Goldegg Verlag um 19,95 €. www.oelsboeck.at

Frau Mag. Ölsböck, der Trend zur Normalität. Was ist davon zu halten?
Natalia Ölsböck: Nach den Ereignissen der jüngsten Zeit ist das eine logische Entwicklung. Die Wirtschaftskrise hat eine Sehnsucht nach Normalität verursacht. Man sieht das auch im Freizeitverhalten der Menschen. Ein Hobby wie Stricken galt vor fünf Jahren noch als lächerlich. Heute ist das cool, so wie Kochen. Das Häusliche, vielleicht sogar Spießige, ist in die Gesellschaft zurückgekehrt.

Warum machen dabei auch Stars mit, die ja für Glamour stehen?
Der Umstand etwas Besonderes sein zu müssen, ist anstrengend. Jeder hat die Sehnsucht nach Gemeinschaft, es geht weg vom Individualismus. Zum Beispiel das englische Königshaus: Die jüngere Generation wie William und Kate gibt sich viel normaler als die ältere. Da wird auch selbst Auto gefahren. Man darf sein, wie man ist, nämlich wie alle.

Woher kommt der Wunsch?
Das Geschäftsleben zeigt das gut. Es geht weg von der Kultur der Ausbeutung, heute sind wieder Menschen mit sozialer Kompetenz gefragt. Karrierestreben hat sich nicht bezahlt gemacht. Menschen werden krank und zerbrechen daran. Deshalb diese Entwicklung.

Wird sie sich durchsetzen?
Es kommt darauf an, was sich in der Welt tut. Kriege oder Katastrophen wirken sich auf solche Entwicklungen aus. Ansonsten glaube ich aber daran. Wir haben auch fast keine andere Möglichkeit. Mittlerweile ist ja schon jede Auffälligkeit normal geworden.

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