Es ist ein Gefühl der Vertrautheit, das uns an Serien bindet. Ein bisschen Schlüsselloch-Feeling auch, natürlich, teilhaben am Leben, Lieben und Leiden der anderen. Und was echte Friends anbelangt, die mag man auch, wenn man sich eine Weile nicht gesehen hat: 17 Jahre nach ihrem Ende feierte die gleichnamige Serie gerade eben ein vielerorts mit Freudentränen zelebriertes Comeback.
Fans fieberten dem großen Moment mehr als ein Jahr lang entgegen und haben dafür sicher für ein gutes Jahr Gesprächsstoff. „Das ist eine Funktion des Fernsehens, die nicht unterschätzt werden sollte“, erklärt Medienwissenschaftler und Psychologe Peter Vitouch. „Bekannte Serien sorgen, wie auch Sport-Großereignisse, für sogenannten Social Grease, also den Sozialen Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Weil man sich eben auf bestimmte Punkte einigt, gemeinsame Interessen hat.“
Und das ist vielleicht auch gleich die Dimension des Fernsehens, die sich in den vergangenen 20 Jahren am drastischsten verändert hat. Denn selbst die hartgesottensten Friends-Fans haben eventuell gar nicht die Zeit, sich ausführlich über ihre gealterten Lieblinge zu unterhalten. Weil der geniale französische Dieb Lupin schon mit neuen Folgen wartet, die Aerobic-Serie Physical fängt auch bald an, Bridgerton sollte man sich endlich doch mal reinziehen – und war da nicht noch was mit der aus Big Bang Theory? Genau, Flight Attendant steht auf dem Binge-Watching-Programm!
„Wir haben es hier mit zwei Phänomenen zu tun, die ineinanderspielen“, erklärt Professor Vitouch. „Zum einen eben das Binge-Watching, also etwa über ein Wochenende komplette Staffeln anzuschauen. Dabei entsteht kaum Nähe zu den Charakteren. Das zweite ist die zeitliche und räumliche Aufsplitterung der Rezipienten. Es ist also ganz einfach schwierig jemand zu finden, der gerade dasselbe sieht wie man selbst.“
Die Serie als Beziehungskiste
Lange Zeit lief das völlig anders ab. Wenn etwa Marshall Matt Dillon in der erfolgreichsten Serie aller Zeiten das Böse aus Dodge City fern hielt, wusste praktisch das ganze Land darüber Bescheid.
Sagenhafte 20 Jahre lief Rauchende Colts, Dillon und der gute Doc Adams, Festus und Miss Kitty wurden in vielen Haushalten praktisch zu Verwandten aus dem Wilden Westen, genau wie Ben Cartwright, Hoss und Little Joe aus Bonanza oder der wilde Trampas von der Shiloh Ranch.
„Durch die gemeinsame Aufarbeitung mit Freunden oder Bekannten näherte man sich den Charakteren dieser Serien sehr intensiv an. Das war schon beinahe wie eine Beziehung“, erklärt Peter Vitouch.
Dass ewige Verwandtschaftsbesuche mit der Zeit allerdings ein wenig eintönig werden, wurde auch am TV-Serienmarkt bemerkt – und so änderte 1978 (1981 im deutschsprachigen Fernsehen) eine neue Show die Regeln grundlegend: Dallas.
„Hier wurden die Spielregeln auf den Kopf gestellt“, sagt Medienexperte Vitouch. „Während davor die Bösen auch schon optisch von den Guten klar unterscheidbar waren, und man sicher sein konnte, dass am Ende die Guten gewannen, war es hier immer wieder der böse J.R., der zuletzt lachte. Und andererseits zeigten auch die Guten immer wieder ihre weniger guten Seiten ...“
Wenn J.R. Ewing am Dienstag in Dallas seinem armen Bruder Bobby wieder einen besonders fiesen Streich gespielt hat, sprach am nächsten Tag fast jedes Büro, jeder Friseur, jeder Stammtisch darüber. Die verbindende Qualität des Social Grease eben.
Heute sehen in einer Gruppe von zehn Leuten wahrscheinlich alle zehn unterschiedliche Programme. „Es gibt natürlich Ausnahmen. Game Of Thrones war so eine, da hätten wahrscheinlich sieben der zehn mitreden können – aber diese Ausnahmen sind doch ausgesprochen selten geworden.“
Apropos: Das sind doch auf Anhieb kaum vermutet ähnliche Erfolgsrezepte, mit denen sowohl Dallas als auch Game of Thrones für Gesprächsstoff sorgten. Macht, Intrigen, Allianzen, Betrug, Sex, Gewalt und vor allem: Die Bösen haben gute Chancen zu gewinnen und tun es auch immer wieder!
Plötzlicher Serientod
„Nichts ist so spannend wie die Realität, heißt es immer wieder. Aber das ist völliger Quatsch“, führt Peter Vitouch aus. „Menschen wollen unterhalten werden. Allerdings in einem vorhersehbaren Rahmen. Das sieht man auch im Kino, wo viele Blockbuster eigentlich Serien sind, James Bond etwa oder die Filme aus dem Marvel Universum. Die Charaktere sind bekannt, die Dramaturgie auch und eine vertraute Wenn-dann-Formel wird eingehalten. Das führt zu Akzeptanz beim Publikum und so zum Kassenerfolg.“
Normalerweise bleiben deshalb gegen den Strich gebürstete Filme und Serien ein Nischenprodukt, etwas für Insider die Indie-Produktionen lieben. „Andererseits lassen sich Menschen hin und wieder doch gerne überraschen“, erklärt Vitouch. Wenn’s gut gemacht ist und alle Parameter stimmen, kann so ein Überraschungsei dann viral werden – und steckt die Zuschauer im wahrsten Sinn des Wortes an.
Das Problem: Dieser Virus ist kaum planbar. Dallas war ursprünglich als fünfteilige Miniserie geplant, niemand im Team glaubte an einen derart spektakulären und langfristigen Erfolg. Wenn das Konzept der Überraschung zu lange fortgesetzt wird, wird es selbst zur Norm und die Zuschauer stumpfen ab. Endlos steigern lässt es sich auch nicht, wie man an Game Of Thrones gesehen hat.
Was tun die großen Networks heute also, HBO, Sky, Netflix, Apple, Disney, Hulu, TNT, Starz und wie sie alle heißen? „Sie produzieren eine Serie nach der anderen, stellen sie ins Netz und verzichten so auf die Screenings. Also die landesweiten Testvorführungen, mit denen früher entschieden wurde, ob etwas umgeschrieben werden muss oder was wie wann und wo am besten laufen sollte“, beschreibt Peter Vitouch die aktuelle Situation.
Was sich in der Unzahl an Neuerscheinungen nicht durchsetzt, wird eben wieder abgesetzt. Üblicherweise nach der zweiten Staffel, weil dann neue Verträge fällig werden, die Kosten steigen und absehbar ist, ob sich der Aufwand lohnen würde. Wenn’s ganz schlimm läuft, wie bei der so starbesetzten wie qualitativ hochwertigen Serie Vinyl oder auch bei Here And Now mit Tim Robbins und Helen Hunt, werden Serien nach nur einer Staffel zu Grabe getragen. „Was für Fans natürlich problematisch ist, weil der Handlungsbogen ja weiter ausgelegt war und es kein befriedigendes Ende gibt“, wie Peter Vitouch erläutert.
An diesem Konzept wird sich kaum etwas ändern, weil es eben erfolgreich ist. Es kann also immer sein, dass ein lieb gewonnener „Freund“, den wir in einer Serie gefunden haben, plötzlich wieder von der Bildfläche verschwindet. Derart treue Kumpel wie Marshall Matt Dillon oder aktuell Meredith Grey und Cristina Yang aus Grey’s Anatomy werden Ausnahmen bleiben. Es wie die Jungen, die praktisch ohne lineares Fernsehen aufgewachsen sind, zu machen und gemeinsam zu schauen, ist der Rat des Medienexperten. Um eben doch für Gesprächsstoff, Social Grease, zu sorgen.
Es würde sich durchaus auszahlen, da das Angebot bunt und breit gefächert ist, wie auf dem herrlichsten Markt mit Gewürzen und Früchten aus aller Welt. Alles, was im Einheitsbrei traditioneller amerikanischer und biederer einheimischer Ware früher keinen Platz hatte, ist jetzt zur Verfügung. Irische Serien, mexikanische, südamerikanische, französische, italienische und auch österreichische Produktionen, die es zu entdecken gilt. Und zu besprechen.
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