Christian Seilers Gehen: Simmering mit Dagobert Duck
Ich gehe vom U-Bahnhof Simmering stadteinwärts, aber nicht die Simmeringer Hauptstraße entlang, danach steht mir heute nicht der Sinn, zu viele Diskonter, zu viel Kebap. Stattdessen biege ich in die Mautner-Markhof-Gasse ein und habe augenblicklich das Bild des Patriarchen Manfred Mautner Markhof (1903-1981) vor Augen, dessen Dagobert-Duck-mäßigen Backenbart ich bis heute nicht vergessen habe.
Die Straße ist eng und changiert zwischen den Resten ihrer ländlichen Vergangenheit, einstöckigen Handwerkerhäusern, den Neubauten, die gerade mit einer gewissen Hektik hochgezogen werden und dem verbliebenen Gewerbe, aus dem die schönbrunnergelbe Mautner-Markhof-Fabrik natürlich hervorsticht. Historische Hinterlassenschaften flankieren die gepflegten Produktionshallen, und gegenüber, im Kastanienhof, dem ehemaligen Domizil der Industriellenfamilie, entstehen geförderte Wohnungen.
Vor dem Haus des „Hilfs- und Solidaritätsvereins Akdag Yarder“ stehen zahlreiche türkische Männer und rauchen. Der Verein ist eine Anlaufstelle für die 13.000 türkischstämmigen Wiener, die aus der türkischen Provinz Yozgat stammen. Es gab Diskussionen um die politischen Hintergründe und Bestrebungen des Vereins, sie kochen immer wieder hoch, wenn die nicht friktionsfreie Beziehung zwischen verschiedenen Volksgruppen in Simmering thematisiert wird, die problematischer als in anderen Bezirken zu sein scheint, auch wenn der Ausländeranteil Simmerings mit 18 Prozent unterdurchschnittlich ist.
Ich gehe weiter in die Hallergasse, überquere die Kopalgasse, links und rechts Wohnhäuser und eine helle, heitere Stimmung unter dem hohen Himmel Wiens. Ich biege in den Schütte-Lihotzky-Weg ein, ein Informatonsschild erklärt uns Passanten, dass es sich bei Frau Schütte-Lihotzky um die „Erfinderin der Frankfurter Küche“ gehandelt habe, was zwar stimmt, was ich bei einer Architektin ihres Ranges – Widerstandskämpferin, Zeitzeugin, Lehrende, Pionierin einer fortschrittlichen Arbeiterarchitektur – für eine krasse Verkürzung halte. Immerhin sind in Wien gleich zwei Orte nach ihr benannt, neben dem Weg entlang der geheimnisvollen Bahntrasse, der ich neugierig folge, gibt es auch noch den Schütte-Lihotzky-Park am Mittersteig im fünften Bezirk. Der Blick ist beeindruckend. Von der Trasse der stillgelegten Bahn sehe ich hinüber auf die vier Gasometer, die zu charaktervollen Wohnkomplexen umgestaltet wurden. Davor haben sich andere Wohnhäuser und ein kleinteiliger Gemeinschaftsgarten angesiedelt, dessen Hochbeete aussehen wie eine Flotte von Fischerbooten vor einem griechischen Hafen.
Ich komme ins Träumen. Wien ist sichtbar dort am Großartigsten, wo andere Träumer Träume gewagt haben, die auf den ersten Blick vermessen gewirkt haben müssen. Längst sind viele der kühnsten Träume Wirklichkeit geworden, und der Auftrag an uns alle lautet: weiterträumen. Wer eine Gebrauchsanweisung dafür braucht, soll hier einen Blick in die Gegenwart werfen, die vor Kurzem noch unerreichbare Zukunft war.
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