Christian Seilers Gehen: Schöner Wohnen anno 1932

Christian Seilers Gehen: Schöner Wohnen anno 1932
Ober St. Veit – Roter Berg – Werkbundsiedlung – Veitingergasse – Lainzer Platz: 4200 Schritte

An Häusern vorbeizugehen bedeutet, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie Menschen leben. Manchmal – wenn das Haus geräumig und elegant ist, samt gepflegtem Vorgarten und einem hübschen Gartenstuhl, wo die letzte Abendsonne ihre Strahlen ablädt – ist das ein Leben, das mir auf den ersten Blick beneidenswert scheint; manchmal – wenn die Verhältnisse eher der von Le Corbusier propagierten „Wohnmaschine“ gleichen, hohe Häuser, gleichförmige Fassaden, kleine Rückzugsflächen – ertappe ich mich dabei, dass ich froh bin, nicht an dieser Adresse zu Hause zu sein. Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass die gute Adresse keine Garantie für ein gutes Leben ist, und dass vielleicht genau hinter dem schlecht geputzten Fenster der Wohnmaschine ein Licht der Euphorie, der Genialität oder der Erfüllung brennt.
Als ich von Ober St. Veit über den Roten Berg spazierte und im Zwickel von Veitingergasse und Jagdschlossgasse vor der Werkbundsiedlung stehen blieb, verflüchtigten sich diese Gedanken. Die schlichten, aber sorgfältig gestalteten und rhythmisierten Häuser mit ihren Flachdächern, klug gesetzten Fenstern und kleinen Gärten erzählten keine individuellen Geschichten. Sie formulierten gemeinsam eines jener großen Versprechen, die in Wien immer wieder getroffen wurden, wenn auch vielgestaltig und widersprüchlich: Könnte nicht etwa genau so ein besseres Leben für viele Menschen aussehen?
Die Werkbundsiedlung entstand als Bauausstellung. Unter der kuratorischen Leitung von Josef Frank wurden die bekanntesten Architekten der späten Zwanzigerjahre eingeladen, ihre Visionen für menschenfreundliches Wohnen zu verwirklichen. 31 Architekten – darunter Stars wie Josef Hoffmann, Clemens Holzmeister, Oswald Haerdtl, Ernst Lichtblau, Richard Neutra, Adolf Loos, Gerrit Rietveld und Margarete Schütte-Lihotzky – planten kleine, modernistische Häuser, die unter dem Motto „Wirtschaftlichkeit auf engstem Raum“ funktionieren mussten.
Im Mittelpunkt stand die streng durchdachte Funktionalität jedes einzelnen Baus. Sie fand ihren Ausdruck in einer schnörkellosen, aber stolzen Ästhetik. Im Sommer 1932 wurde die Siedlung eröffnet. Die Häuser konnten besichtigt werden. 100.000 Besucher kamen an den Stadtrand. Das Medienecho war positiv.
Durchgesetzt hat sich die Idee der günstigen Gartensiedlung als Alternative zum Gemeindebau nicht. Aber sie legt noch heute Zeugnis davon ab, wie liebevoll Zukunft einmal gedacht wurde, und diese Idee berührte mich, als ich die Siedlung durchstreifte, meine Favoriten aufsuchte (die Häuser von Josef Hoffmann, André Lurçat und Richard Neutra) und mir fast zwangsläufig vorzustellen begann, wie es sich hier wohl lebt.
Hinter manchen Zäunen sah ich den Respekt vor der eindrucksvollen Architektur aufblitzen. Hinter anderen hatte sich mit Grillkaminen, Gartenzwergen und Kunstfasergartenmöbeln eine Normalität ausgebreitet, die im krassen Widerspruch zur ästhetischen Gesamtanmutung stand. Aber so gute Architektur hält selbst den frechsten Gartenzwerg aus.

christian.seiler@kurier.at

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