Christian Seilers Gehen: Botanische Erlebnisreise
Ich habe bei anderer Gelegenheit schon von dem bunten Strauß an positiven Wirkungen erzählt, die jeder Besuch im Botanischen Garten der Universität Wien auf mich hat. Da ist nicht nur die beispiellose Eleganz der Anlage, die sich durch eine hohe Mauer verborgen an den Barockgarten des Belvederes schmiegt und Ideen über die Grundlagen harmonischer Architektur aufsteigen lässt. Der Blick wechselt permanent zwischen den Sensationen des Großen, des Ganzen und des Kleinen, des zu Entdeckenden. So entstehen aus neuen Blickwinkeln ganze Landschaftsakkorde, oder es drängen sich eine spezielle Blüte oder ein skurriler Schattenwurf in den Vordergrund.
Natürlich machte ich auch dem fabelhaften Grasbaum meine Aufwartung, der zum ersten Mal seit etwa 150 Jahren blüht. Aus der unspektakulären Beatles-Frisur des Baums ist ein gewaltiger Blütenstand emporgewachsen, der einen intensiven, honigsüßen Duft verströmt, sodass sich alle Besucher ganz sonderbar bewegt fühlen, mich inklusive. Höchste Zeit übrigens, dieses rare Schauspiel zu betrachten. Die Botaniker sind nämlich nicht sicher, ob der Baum die eigene Blüte überleben wird.
Als ich nach ausführlicher Betrachtung des Grasbaums den verschlungenen Wegen der Anlage folgte, um mich vom Frühling immer wieder überraschen zu lassen, traf ich einen Kollegen, der einen Tipp für mich hatte.
„Kennst du den Alpengarten?“, fragte er. „Natürlich“, sagte ich. „Da gehe ich immer vorbei, wenn ich hinüber in den Belvederegarten will.“ „Genau“, sagte er. „So machen es die meisten. Aber nicht ich.“
Er holte das Portemonnaie aus der Jacke und zeigte mir seine neueste Errungenschaft: die Jahreskarte für den „Alpengarten im Belvedere“. Schon beim ersten Besuch, der schlicht der Neugier entsprang, etwas zu sehen, was man sonst buchstäblich links liegen lässt, habe er sich in den menschenleeren Alpengarten verliebt. Seither aber – er schwenkte die Jahreskarte – habe er einen neuen Lieblingsplatz.
Selbstverständlich löste ich wenig später an der Kassa des Alpengartens meine eigene Jahreskarte. Die Investition ist überschaubar, und die zwölf Euro könnten nicht besser angelegt sein.
Die von Erzherzog Johann begründete Sammlung von Alpenpflanzen wurde im 19. Jahrhundert mit der Flora Austriaca verheiratet, jener berühmten Sammlung von Pflanzen aus allen österreichischen Kronländern, die im ehemaligen Küchengarten des Belvederes ihre Heimat hatte. Daraus sind blühende Mikrolandschaften entstanden, die Wildnis simulieren und doch Kultur atmen. Ich fand einen berückenden Sitzplatz zwischen den Rhododendren, wo ich deren Farbenrausch in der Nachmittagssonne einatmete, dann spazierte ich hinüber in den Bonsaigarten, dieses Minimundus der Botanik, und verlor mich zwangsläufig in Gedanken über das Große und das Kleine, und als ich eine Stunde später mit winzigen Schritten den Alpengarten verließ, rief mir der Herr an der Kassa, der mir die Jahreskarte ausgestellt hatte, mit kakanischer Freundlichkeit nach: „Bis demnächst, der Herr.“
Ja. Bis demnächst.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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