Mehr Dioptrien als Haare

Manche sammeln schöne Tage. Manche werden aber einfach nur alt.

Himmel! Man ist in einem Alter angekommen, in dem man Sätze sagt wie „Damals, in den frühen Neunzigern, weißt du noch?“ oder „Wie lange kennen wir uns jetzt schon – 30 Jahre?“ Man trifft Menschen wieder, mit denen man auf Interrail in Bahnhofshallen übernachtet hat – geduscht wurde man damals vom Putzpersonal, das in aller Frühe den Boden sauber gespritzt hatte. Aber mit Hilfe der vielen lustigen Zigaretten fand man auch das lustig. Diese Menschen sehen heute meist sehr seriös aus. Mehr Dioptrien als Haare. Einige Womanizer von früher stehen noch immer an der Bar des Lieblingscafés. Manche sitzen auch – wegen der Bandscheiben. Früher haben sie hier Pfauenräder geschlagen und Trophäen-Rezensionen abgegeben. Jetzt erzählen sie sich Witze mit Geheimratsecken und bejammern ihre Reflux-Problematik und die Unterhaltsforderungen ihrer Ex-Frauen und Ex-Kinder. Sie erwecken den Eindruck, dass sie ihre Zukunft bereits weit hinter sich gelassen haben. Wenn man ihnen länger beim Sein zuschaut, ist das wie Botox für die Seele. Man fühlt sich plötzlich so verdammt jung. Nicht dass einem der Traktor namens Leben nicht auch schon über das Gesicht gerattert wäre, aber man hat zumindest Satteltaschen voller Pläne. An denen man natürlich auch mit Karacho scheitern wird, aber egal. Alter ist definitiv keine Altersfrage. Ich kenne Endvierziger, die es sich schon in der vorzeitigen Altersteilzeit gemütlich machen und sich ganz ihren Haustieren widmen. Ich kenne aber auch multitaskende Miles-&-More-90-Jährige, die mit der Neugierde verhaltensorigineller Kleinkinder durchs Leben toben. „Schatzerle, ich habe doch überhaupt gar keine Zeit zum Kranksein“, trompetete mir einer von denen neulich am Telefon zu, als ich mich nach seinem Befinden erkundigte, „ich muss doch schöne Tage sammeln.“

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