Weihnachtslieder für Lanzenottern
Als ich die Tasche für Costa Rica packe, schreit der Fortpflanz: "Mama, du nimmst deine Bergschuhe mit. Keine Widerrede! Der Regenwald ist nämlich hoch gefährlich, alles voller Schlangen. Ich brauch dich noch ein kleines Weilchen." Das Kind hat sich im Netz schlau gemacht. Es weiß jetzt alles über Augenwimpern-Vipern und Lanzenottern. Ich müsse nach dem Biss sofort ein Foto von meiner Mörderin machen, damit die im Spital mir das richtige Gegengift injizieren. – "Ein Snakie, Schatz " – Das Kind findet das alles nicht komisch, denn es sieht sich bereits jetzt als traurige Halbwaise, die mit Graupensuppe und Zara-Klamotten aus den Zehner-Jahren in einer versifften WG mit anderen Sozialfällen ihr freudloses Dasein fristen muss. Die Vision erschüttert sie so, dass ihr dicke Tränenströme die Wangen runterkullern.
Der formidable Herr Schnitzler, Arthurs Enkel, der im wilden Süden des Landes mit seinem Öko-Projekt den Regenwald vor den Schlägertrupps rettet, beruhigt einen vor Ort. In seiner Esquinas-Lodge hätte es einmal in 14 Jahren einen Schlangenbiss gegeben. Ich beschließe, keine Angst zu haben. Denn viele Menschen sind so von ihren Ängsten durchlöchert, dass die bessere Hälfte ihres Lebens ungenutzt an ihnen vorbeizieht. Und just die, die sich am meisten fürchten, werden natürlich auch dann gebissen – von der Liebe, ihren Chefs, verschlagenen Automechanikern und mobbenden Kollegen-Nattern. Während ich so allein durch das grüne Dickicht stapfe, in dem es an allen Ecken und Enden raschelt, singe ich laut Weihnachtslieder. "Kommet ihr Hirten" und "Oh Tannenbaum", "Stille Nacht" erschiene mir zu banal für Gift-Porsches wie Lanzenottern. Eine durch und durch ausgefuchste Abschreckungs-Strategie, wie ich finde. Beim Abendessen erzählt mir Herr Schnitzler, dass Schlangen stocktaub sind. So viel zum Thema "Eine Stadttussi in der grünen Hölle."
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