Neuorientierung
Der Mann, dem die Frau 30 Jahre ihres Lebens auf dem Silbertablett serviert hatte, sagte: „Ich möchte mich neu orientieren.“ Sie hatten miteinander drei Buben groß gezogen, sie ihm seine HNO-Praxis geschupft und nie darüber nachgedacht, dass er ihr je so einen Satz rüberschießen könnte. Die Neuorientierung hatte ein Gesicht, ein hübsches Gesicht. Sie war eine Emoticon-Poetin und schickte viele Smileys mit Kussschürzen. „Ich stehe vor den Trümmern meines Lebens“, schluchzte die Verlassene ins Telefon, „ich kann das alles nicht begreifen.“ Ich hätte jetzt jede Menge Kalendersprüche parat. Marke „Vielleicht kriegt er sich wieder ein“ oder „Gib ihm Zeit.“ Nur – wir sind alle in einer Lebensphase, in der wir nicht mehr alle Zeit dieser Welt haben. Zeit ist Gold. Wir können sie nicht mehr herschenken und müssen damit sehr knausrig umgehen. Und wenn Männer in ihrer 50-plus-Phase sich Fragen zu stellen beginnen, wie „Kann das alles gewesen sein?“, muss man damit rechnen, dass das sehr, sehr lange dauern kann. Hormone sind Fetzenschädeln. Ich sagte also: „L-Word. Loslassen. Hol dir dein Leben zurück! Jetzt!“ – „Aber wie?“ – „Egal wie. Jetzt!“ Zwei Monate später war die Scheidung durch. Meine Freundin lebte danach statt in einer Cottage-Villa in einem Schuhkarton von einer Wohnung. Sie jobbte prekär. Ihre Tod’s und Celine-Taschen hat sie auf Kommission in Vintage-Läden deponiert. Wir aßen Linsen. „Und wie fühlt es sich an?“, fragte ich sie, „das neue Leben?“ – „Beschissen“, grinste sie, „aber es gehört wieder mir. Mir ganz allein.“ – „Trauerst du nicht mehr?“ – „Ich trauere wegen meiner Blindheit, aber ich verzeihe mir.“ Den Satz fand ich wunderschön. Ich umarmte sie und variierte einen Idioten-Werbespruch: „Mehr können Sie für Ihre Psychowäsche gerade nicht tun!“
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