Anstalts-Insassin

Wie man sich am besten vor der Wirklichkeit verbarrikadiert.

Bevor ich die Anstalt verlasse, bekomme ich jedes Mal Fracksausen. Ich will nicht in diese „fremde, seltsame Welt“, wie David Lynch die Realität nannte, in der unbezahlte Strafmandate, langsam nervöse Deadline-Wächter, Abgaben, Gebühren und Zillionen einzelne Socken, denen ihr Wirkwaren-Partner verloren gegangen ist, auf mich lauern. In der Anstalt hat man keine Probleme. Höchstens, welche Art von Fleisch man auf den Grill knallt, oder wo sich der Gartenschlauch schon wieder verkrochen hat. Das Leben ist dort überschaubar, dementsprechend beruhigend und von einem Gemeinschaftsgeist getragen, den man jenseits der Anstalt vermisst. Wenn wo was fehlt oder hakt, laufen alle zusammen. Wie es eben früher in den Dörfern war. Die Anstalt liegt an der Alten Donau. In der Früh landet ein Graureiher auf dem Steg und schaut blöd. Ich finde ihn eigentlich schön bis zum Antrag. Dann schau ich doch nur blöd zurück. Ich durchpflüge nachts das Wasser. Der „Quotenclown“, wie sich meine Anstalts-Mitinsassin und Kabarett-Freundin nennt, verspricht mir, dass ich demnächst eine blinkende Disco-Boje bekomme, damit ich nicht von mondsüchtigen Sportruderern wegrasiert werde. Sie braucht mich noch – als Schreibsklavin. Die Anstalt ist auch gut für materielles Detoxing: Man braucht drei Bücher von Tolstoi, Flaubert und Fitzgerald, keine Outfits, sondern maximal Bedeckungsmaterial, Wurstwaren und ein paar Flaschen ehrlichen Weins. Mit so geringfügigen Mitteln dümpelt man auf Temperatur Zufriedenheit. Mein Anstaltsnachbar ist der liebe E, ein Mann mit großem Talent für die kleine Philosophie. Wenn er seine Nase in die Sonne reckt und beim Blick auf das glitzernde Wasser anmerkt: „I seh einfach kan Fehler“, kann man nur (und das ist auch schon sein zweiter Lieblingssatz) „Is’ so“ hinzufügen.

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