Endstation Sehnsucht

Eine Stadt hat sich neu erfunden. Nur der Name blieb derselbe wie vor 132 Jahren: Puerto Madero
Glanz, Elend, Größenwahn, Melancholie – und Tango! Die Melodie der schönsten Stadt des Universums. Lebensgefühl in einem Konstrukt aus schönem Schein.
Von Ro Raftl

Wie ein Tropfen im Ozean, schwindlig gebeutelt am Sprießl im sardinendosenvollen Bus von La Boca zur Plaza Italia: Aufgeschminkt geliftete Blondinen in den nicht mehr besten Jahren; Peruaner, Vater, Mutter, Kind, leicht zerlumpt; auf Teufelkommraus schmusende Paare; straffe Herren mit weißem Zwirbelschnauzer; frei getragene Busen, die man in Europa selten so sieht; ein hagerer Twen, der mit sich selber spricht; eine schlanke Schöne mit wehendem Haar in Dries Van Noten, unverkennbar. Nichts, was es nicht gibt in den 15.000 Collectivos, die das politisch-kulturell-kommerziell-industrielle Zentrum Argentiniens auf 200 Quadratkilometern durchpflügen, die 48 Stadtteile der Hauptstadt Buenos Aires, schlicht La Capital genannt. Ein hypernervöser Bienenstock, lärmintensiv und stillverträumt, schwerreich und bettelarm, antiquiert und modern, grün und dreckig, und, wie’s so schön im Reiseführer heißt, "steingewordene Sehnsucht, erträumt von Millionen europäischer Einwanderer". Ja, man fühlt sich zu Haus zwischen Jahrhundertwendehäusern, aufgelockert von modernen Appartementblocks, Supermärkten, Eiscafés, Obstgeschäften und Bäckereien. Wohnt in Palermo, einem "guten" Viertel. Ein Tipp sorgloser Damen, die Wohnungen für länger mieten, um sich BUE dollarfundiert als Trauminsel ihrer Helden zu erobern.

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Tangotänzer im Stadtteil La Boca in Buenos Aires
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Tango: Mehr als Musik und inbrünstig zelebrierte Körperdisziplin. Nostalgisch, sehnsüchtig, sentimental – und ein krisensicheres Geschäft
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Die Stimme Argentiniens: Carlos Gardel hat den Tango berühmt gemacht

Carlos Gardel ist so ein Held – noch aus der Zeit, als es "Tango zum Leiden und Tango zum Töten" gab, wie’s Arturo Pérez-Reverte in "Dreimal im Leben" so gut erzählt. Den Tango der Gauchos, schwarzer Sklaven und bitterarmer Landarbeiter aus Europa. Den Tango von Zuhältern und Huren im Hafenviertel von La Boca, bevor er von seiner Reise nach Paris schicklich geglättet zurückkam. Gardel fuhr auch nach Paris, und bis nach Hollywood. Mit 45 war der Weltstar tot. Flugzeugcrash. Das Phänomen Tango verblasste unterm Rock’n’Roll.Bedeutungslos für den Bandoneonisten Astor Piazzolla, der "die argentinische Musik" mit Jazz und Klassik mixte – wofür ihn die alten Tangueros gern ausgepeitscht hätten. Aber hören Sie Piazzollas Vuelvo al Sur, wie es Roberto Goyeneche singt und Sie wissen, wer mein Held ist.

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Ein Tanz als Lebensgefühl einer Nation

Klar, warum man nicht tourimäßig durch die Sehenswürdigkeiten von der Plaza de Mayo, dem Palacio Barolo, dem Obelisken bis zur interessanten Museumsarchitektur des MALBA getrieben werden will? Um sich auf die Spuren des alten und des neuen Tango zu heften. Also los, auf Dutzende Milongas, freiluftig scheinwerferbestrahlt in der Glorieta, einem Salettl im Park Las Barrancas de Belgrano, edel mit aufgeputzten Oldies in der herrschaftlichen Säulenhalle der Confiteria Ideal, einer alten Konditorei. Auf Tangoshows mit enormem Qualitätsunterschied: So sagenhaft berühmt das Café Tortoni ist, dass die Gäste Schlange bis zur Ecke stehen, so viel spannender ist die Show im Café de los Angelitos, einem alten Theater, das wie alle anderen Essen und Show zum Geschäft macht. Auch im Faena-Hotel in Puerto Madero, von Philippe Starck ein wenig aus der Kitschkiste gestylt. Faenas Tango-Rojo-Show ist davon nicht betroffen.

Nur schön. Vielleicht war’s aber auch der leuchtende Abendhimmel am Weg über der Brücke des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava, der die beiden Ufer des Kanals im neuen Hafen verbindet. Linden haben sie dort gepflanzt, und die Restaurants sind so hipp wie teuer. Mühseliger allemal ohne Guide, aber freier.

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Santiago Calatravas "Frauenbrücke" über dem Kanal in Puerto Madero – wo alle Straßen Frauennamen tragen

Für das Caféhaus – laut Pirelli-Führer Argentinien eine "Botschaft der Metaphysik, ein Ort sozialer Kommunikation, wo man die Welt wieder geistig ordnen kann", mit einem expres und zwei knusprigen Germ-Blätterteig-Kipferln, medialunas. Gibt kein lustvolleres Frühstück als unter den bunten Jugendstilglasscheiben von Las Violetas.Frei fürs Lauschen, wenn der Chef des Reisebüros, der die Fahrt mit dem neuen Schnellboot Francisco nach Uruguay bucht (alles Neue heißt jetzt Francisco) aus dem Stand zwanzig Minuten über die Schande ätzt, dass Kinder und Alte in der Hitzewelle massiv hinsterben. Auswendig Argentiniens Goethe, den blinden Dichters Jorge Luis Borge zitiert: "Politisch zählt Argentinien nicht. Und ökonomisch? Die Militärs haben es ausgeraubt und ruiniert, Argentinien ist ein Land, dessen Bewohner nicht einmal ihre eigene Währung akzeptieren." Worauf es dem Peruaner am Flohmarkt von San Telmo leicht fällt, eine Borges-Ausgabe von 1957 überteuert loszuschlagen. Im Ateneo Gran Splendid, dem spektakulärsten Buchgeschäft der Stadt in einem Theater von 1919 wär die Gesamtausgabe billiger gewesen. Die heilige Inbrunst der Milongatänzer auf der Plaza Dorrego verstärkt die Melancholie. Wenn auch nicht so weit, dass eine Vegetarierin eine Parilla, sprich "parischa" probiert: das weltberühmte argentinische Steak am Grill.Trotzdem frei ist fürs Lachen, dass am Heiligen Abend Feuerwerk in den Himmel gejagt wird und die Golden Retriever der dreitagesbärtigen Herren aus dem Block mit den Pudeln der lilahaarigen Omis die laute Nacht im Chor anbellen.

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Cafe Tortoni in Buenos Aires

Für die Befriedigung, gegen alle Vorsicht-Rufe hinter die imposante Jugendstilfassade des Bahnhofs Retiro geschaut zu haben, in das zweite beschämende Gesicht der brausenden Megametropole. In die Slums hinter den putzig knallbunt bemalten Häusern und der Sprayerkunst am Caminito von La Boca, wo inmitten von Kneipen, Kitsch- und Klamottenshops Männer sehnsuchtsvoll vom Arm der Gattinnen La Bonbonera anvisieren, das Stadion, in dem ihr kaputtgegangener Held Maradona früher groß aufgegeigt hat. Frei, um wilde Plakate und die Demo gegen Christina Kirchner nicht auszublenden.

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Zuckerlbunt: Der "Caminito" in La Boca

Verkehrschaos – ausgerechnet im Taxi zum Museo Evita. Also ein teurer Besuch im Haus von Peróns "Flittchen", wie die aristokratische Upperclass "den Engel der Armen" nannte. Kritisch wird im Museo nix betrachtet. Evita bleibt (vor allem) Frauen heilig: Nicht nur wegen der wundervoll sentimentalen Liebesgeschichte mit Perón. Sie hat das Frauenwahlrecht eingeführt, Kindergärten, Schulen, Spitäler gegründet, bevor sie 33-jährig an Gebärmutterhalskrebs starb. Ach, unvergessen ihre Auftritte am Balkon der Casa Rosada, wo die Regierung noch heut repräsentiert.

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Evitas Bühne: Der Präsidentenpalast Casa Rosada

Ihr Grabmal am Cementerio de Recoleta ist jedoch (nach ihrem Wunsch) viel unspektakulärer als die Totenhäuser alteingesessener Familien – mit Glasfenstern, durch die man zwölf Särge übereinander geschichtet sieht, Familienfotos auf Spitzendeckerln, Weihnachtsgaben. Die Restaurants rund um das Gräberfeld sind schick, gut, teuer, die Villen und Galerien ebenso, und bei Bedarf kauft man dort auch sein Louis-Vuitton-Täschchen ein.

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Totenhaus der "Primera Dama" Argentiniens: Eva Perón

BUE hat den breitesten Boulevard der Welt, die Avenida 9 de Julio, frei nach den Champs Elysées. Das Teatro Colón, größer als die Mailänder Scala, mit einer Akustik, die jedes Wetzen eines Geigerhinterns bis in den fünften Stock hören lässt, mit Pausenräumen, in denen argentinische Millionen an Handgelenken blitzen. Und die Subte, 1913 die erste U-Bahn Südamerikas. Die historische Linea A wird nur noch sonntags für Touristen aufgefahren, an der Linea D müsste man jede Station fotografieren: Mit plastisch bunten Mosaiksteinchen wird auf Wänden und Stiegenaufgängen die Geschichte der Stadt von Anfang an erzählt. PS: Die Appartements werden billiger, wenn man sie für ein, zwei Monate mietet. Das sollte man tun.

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Akustikwunder Teatro Colón

KULINARISCH

  • Jajaja für Fleischesser – ein zwei drei Parillas, bei Don Julio (Palermo Soho) oder Parilla Peña (Recoleta) und dazu ein Quilmes-Bier
  • Eis in der Heladeria Cadore (Via Corrientes) essen Chocolate con Churros, Schmalzgebäck in heiße Schokolade im La Giralda (Via Corrientes) tauchen
  • Eine Calabaza mit Mate-Tee unter Freunden kreisen lassen. Der gebürtige Argentinier Che Guevara tat das auch.

TOURISTISCH

  • Plaza de Mayo, wo Juan de Garay Buenos Aires gegründet hat. Hier stehen die wichtigsten Bauwerke vom alten Rathaus bis zum Regierungspalast. Weltruhm bekam er durch die Demonstrationen der Madres de la Plaza de Mayo, der Mütter, die gegen das Verschwinden und Vergessen ihrer Söhne während der Militärdiktatur aufmarschierten
  • Ein Spaziergang von der Casa Rosada die Avenida de Mayo hinunter zum Palacio del Congreso Nacional – mit Sidesteps in die Cafés Tortoni und Las Violetas Palacio Barolo, in der Avenida de Mayo, eine in Stahlbeton gegossene Allegorie auf Dantes "Göttliche Komödie" über 22 Stockwerke, dreigeteilt in Hölle, Fegefeuer und Paradies. Im Leuchtturm mit Weitsicht über die Stadt.
  • Plaza Dorrego, der zweitälteste Platz der Stadt, sonntags mit Flohmarkt. Teatro Colón, der Cementerio de Recoleta, die Pferdegalopprennbahn Hipódromo, MALBA; das Museo de Arte Latinomericano de Buenos Aires, der neue Hafen Puerto Madero, das jüdische Textilviertel Barrio Once, die bunte Touristenfalle La Boca mit dem Stadion La Bombonera im Hintergrund.

WIE KOMMT MAN WOHIN?

  • Tipp 1: Vor Aufbruch www.mapa.buenosaires.gob.ar besuchen. Abfahrtsadresse und Zieladresse eingeben. Es kommen mehrere Vorschläge für U-Bahn, Busse, Fußwege.
  • Tipp 2: U-Bahn und Busse sind vernetzt. Ein blankes Ticket um 20 Pesos in einem (angeschriebenen) Kiosk kaufen, am U-Bahn-Schalter (mit 30, 50, 100 Pesos) aufladen lassen. Der Fahrpreis wird in der U-Bahn beim Zugang, aber auch in jedem Bus nach Zielangabe automatisch abgebucht.
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Trödel und Antikes in San Telmo
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