Schön langsam

Schön langsam
Diamanten, Kunst und Küche. In Antwerpen, einer pulsierenden Metropole mit dem Charme eines Dorfes, entdeckt man die Langsamkeit.

Tasse Tee? Ehrenwort – Sie werden meinen Namen nicht nennen und keine Fotos machen? – no gut, dann erzähl´ ich Ihnen … Antwerpen. Im Büro eines alteingesessenen Diamantenhändlers. Ein stickiger, fensterloser Raum. Es riecht nach Hühnersuppe. Mir gegenüber zwischen Relikten aus einer fast versunkenen Welt – Thermoskanne und Tastentelefon unter einer feinen Staubschicht – ein alter Mann mit Bart, auf dessen Glatze ein mächtiger Hut thront. In der Ecke ein krächzender Röhrenfernseher in Dauerbetrieb und, wohin man schaut, überall Lupen. Schon 1947 sei er damals als 19-jähriges Jingl (Jüngling) aus Galizien hierher gekommen. Ohne Geld. Ohne Papiere. Wie ihn zog es viele Juden gleich nach dem Krieg in das weltoffene Antwerpen. Zuerst lernte ich das Schleifen, ein paar Jahre später war ich schon Mitglied der Diamantenbörse, erzählt mir ein vom Leben müder Herr, der seine geliebte Lupe nie aus der Augenhöhle freigibt. In der belgischen Hafenmetropole blühte bereits im Mittelalter der Handel mit raren und kostbaren Schätzen der Erde – mit Diamanten. Bis heute ist Antwerpen das Diamantenzentrum der Welt geblieben. Mehr als 30.000 Menschen erzielen mit Schleifen und Handeln einen jährlichen Umsatz von rund 60 Milliarden Dollar. Die belgische Prinzessin Astrid selbst unternahm vor wenigen Wochen eine Werbetour nach Singapur, um in der Metropole der Millionäre die edlen Steine aus Antwerpen anzupreisen. Fachwissen, Tradition und Qualität – damit will sich die Diamantenstadt im immer härteren Wettbewerb behaupten. Dank des wachsenden Wohlstands in Schwellenländern wie China und Indien nimmt die Nachfrage nach Diamanten rasant zu. Aber auch Anleger in Europa treibt die Angst vor dem Verfall des Euro zu sicher scheinenden Werten.

Doch die Vorkommen werden immer weniger, bereits 2019, warnen Analysten, dürfte die Versorgung mit Diamanten schwinden. Daher steigen die Preise. In Antwerpen, zwischen Pelikaan- und Schupstraat werden weiterhin fast 80 Prozent aller weltweit geförderten Diamanten umgesetzt. Ausfahrbare Straßenbarrieren, alle fünfzig Meter eine Notrufsäule, eine eigene Polizeistation und vermutlich mehr Videokameras als auf dem New Yorker Flughafen garantieren gewisse Sicherheit. Wie im Mittelalter besiegelt man das Geschäft mit den glitzernden Steinen weiterhin per Handschlag. Und dem jiddischen Segensspruch Masl u ´Broche. (Glück und Segen). Vertrauen ist entscheidend. An der Wand in einer der vier Diamantenbörsen hängt neben dem pathetischen Zitat von Anton Tschechov Wir werden Frieden finden, wir werden Engel hören, wir werden den Himmel voller Diamanten glitzern sehen auch anderes. Die Steckbriefe jener, die gegen den Ehrenkodex der Branche verstoßen haben – mit jemandem, der hier am Pranger hängt, werden weltweit keine Geschäfte mehr gemacht. Die Diamanten-Metropole Antwerpen erlebt seit einigen Jahren einen dramatischen Umbruch. Die russische Mafia hat sich im früher friedlichen Viertel gleich hinter dem prachtvollen Jugendstil-Bahnhof, der Centraal Station, niedergelassen. Typen, denen in Berlin oder Brooklyn der Boden zu heiß unter den Füßen geworden ist, meint der Journalist Alain Lallemand, betreiben jetzt hier Geldwäsche in großem Ausmaß. Längst sind die jüdischen Händler in der Minderzahl, längst leuchtet zwischen den tristen, grauen Betonfassaden im Diamantenviertel ein Zeichen der neuen Zeit – ein mächtiger orangefarbener Stern: Das Logo der „Bank of India“. Längst beherrschen immer mehr Inder den Handel mit den funkelnden Steinen. In ihrer Heimat werden sie zu Billiglöhnen geschliffen, um dann hier verkauft zu werden.

Mehr als 500 Hindu-Familien leben inzwischen in Antwerpen, mit den Indern haben wir wenig zores (Sorgen), sie sind faire Geschäftspartner, meint mein Gegenüber, Angst haben wir vor dem Hass, vor den Überfällen … Der Spirale der Gewalt scheinen die belgischen Behörden nicht gewachsen zu sein. Im vergangenen Mai starben bei einer Schießerei im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen. Fast jede Woche gibt es ein Attentat in Antwerpen auf orthodoxe Juden. Rund 500 der 3.000 Europäer, die sich den Dschihadisten, den militanten Fanatikern des Islamismus, angeschlossen haben, kommen – nicht aus Frankreich, sondern aus Belgien. Das sind auf die Einwohnerzahl gerechnet, die meisten Europas. Doch Antwerpen, die Hafenstadt im Norden Belgiens, ist auch Zentrum der Kunst und Lebenskunst. Antwerpen war immer schon la métropole, die Hauptstadt, Brüssel, hingegen nur la capitale. Die Stadt hat den Charme eines Dorfes, vermittelt aber das Flair einer pulsierenden Metropole. Und trotzdem, beim ersten Flanieren durch den weitgehend erhaltenen historischen Stadtkern ist man von einer Art Entschleunigung inspiriert, der Entdeckung der Langsamkeit auf der Spur. Die Hektik bleibt in den Büros zurück, gemütlich spaziert man oder fährt mit dem Rad über breite Boulevards, vorbei an alten Palais am Großen Markt zum Dageraaplaats, um in einer der braunen Bars – holzgetäfelte Lokale mit dunklen Tischen – den Abend sanft kommen zu lassen. Im „Het Zeezicht“ trifft man heute wieder lachende, junge Mädchen, eine Gruppe von lauten Radfahrern in grellen Renntrikots und alte Männer, die tief versunken in ihre Gedanken, jeder für sich allein, an einem anderen Tisch sitzen. Im Eck die Dame im Chanel-Kostüm mit ihrem grauen Organza-Hütchen, die hier vermutlich seit Jahren auf eine späte Begegnung, auf letzte, zarte Glücksgefühle wartet. Die Heimatstadt von Rubens und van Dyck ist nicht nur ein Zentrum der Kunst und der Tradition, sondern auch des Handels, der Container mit Zukunft.

Nächstes Jahr wird im Hafen von Antwerpen, dem drittgrößten Europas, eine nicht nur für Umweltaktivisten beklemmend große Schiffsschleuse eröffnet. Mit der Breite von fast 70 Metern entspricht sie einer 19-spurigen Autobahn. 30 gigantische Kipplaster arbeiten rund um die Uhr, um Erdreich wegzukarren, mit dem man ein Fußball-Stadion zehn Mal auffüllen könnte. Um dann 22.000 Tonnen Stahl zu verbauen – eine Menge, die für drei Eiffeltürme reichen würde. Dem Vorurteil vieler, Belgier ernähren sich nur von Muscheln und Pommes, muss man heftig widersprechen. In kaum einem anderen Land nimmt die Leidenschaft für Essen und Trinken derart imposante, fast besessene Formen an wie in Belgien. Gastronomische Sinnlichkeit. Die feine Kunst der Küche findet man nicht nur auf den Tellern der gepflegten Gasthäuser, sondern auch in der Malerei, wie auf Franz Snyders „Auslage des Fischhändlers“, bei dessen Betrachten bereits Aquaplaning am Gaumen (copyright by Heinz Marecek) entsteht. Seit der Epoche der flämischen Meister weiß man, wie sehr kunstvoller Augenschmaus geschätzt wird. Die Liebe zum Essen drückt sich hier auch in den Straßennamen aus: Pfeffer-, Kohl-, Rüben-, Hopfen- und Heringstraße. Gerne erzählt man sich in Antwerpen beim zweiten, dritten Genever und Bier – es gibt 500 belgische Biersorten – vom Habsburger Karl V., der dem Fischer Guillaume Beuchels, der im 15. Jahrhundert als erster auf die Idee kam, Heringe in Tonnen einzusalzen, derart bewunderte, dass er ihm in der Kirche von Biervliet einen prächtigen Grabstein errichten ließ. Und ihm als letzte Ehre einen Hering aufs Grab legte. Auch die exzentrische, französische Künstlerin Colette zeigte sich von der belgischen Küche begeistert und schwärmte für lange Flußkrebse aus der Maas, die die Größe kleiner Hummer erreichten – ich hielt einen bereits kundigen Gaumen und einen Magen bereit, der keine Sorgen kannte. Nur der selbsternannte Karl der Große Lagerfeld übt sich seit Jahren eisern in Askese. Sogar wenn er in das Schlemmerparadies Antwerpen reist. Um sich wieder einmal in der vielleicht kreativsten Modemetropole Europas Ideen zu holen. Seit die Antwerp Six, sechs junge Modedesigner, den legendären Ruf der belgischen Modestadt begründeten. Seit damals wird die Kreativität von hier aus in die Welt getragen. Dries van Noten oder Ann Demeulemeester, die beiden berühmtesten der sechs Modezauberer, präsentierten vor 25 Jahren in London nach ihrem Studium an der Kunstakademie von Antwerpen ihre Kollektionen. Und setzten in der internationalen Modewelt Maßstäbe. Seit damals kann man Karl und all die anderen Couturiers immer wieder im pittoresken Zuid-Viertel beim Windowsshopping treffen. Antwerpen war auch schon immer eine Stadt der Spezialisten: Vom 11. bis 16. Februar finden die internationalen Leder- und Fetisch-Tage – Leather Pride 2015 – statt. Als Höhepunkt wird wie jedes Jahr der Mr. Leather gekürt. Ab 14. Februar lockt heuer der Rommelmarkt, einer der größten Hallen-Flohmärkte der Welt, Sammler auf das EXPO-Gelände. Und vom 6. bis 8. März präsentiert der Antwerp Classic Saloon auf mehr als 20.000 Quadratmetern die exklusivsten Oldtimer. Jene Reichen, die bei der Euro-Talfahrt nicht noch mehr verlieren wollen und all die Damen ihres Herzens schon genug mit Diamanten behängt haben, werden sich vielleicht hier im März nach einer anderen schönen Geldanlage umsehen. Nach einem Rolls Royce Silver Ghost – man kennt ihn aus Citizen Cane und Lawrence of Arabia –, einem Mercedes 540K oder sie erstehen sogar einen Ferrari 250 GT California Spider …

MODE

Dries van Noten Er ist weiterhin der beste Modeschöpfer Belgiens – und einer der kreativsten Europas. www.driesvannoten.be

Antwerpener fashion department Hier erfährt man alles über die Mode von heute und morgen. www.antwerp-fashion.be

AUSGEHEN

fiskebar Das beste Seafood- lokal im Zuid-Viertel. www.fiskebar.be

het zeezicht Das hipste Café der Stadt, eine der „braunen Bars“ von Antwerpen. www.cafe-zeezicht.be

WOHNEN

de witt lelie Gediegenes Luxushotel mitten in der Altstadt. www.dewittlelie.be apartments

coco-mat Schön eingerichtete relativ günstige Designer-Apartments. www.antwerp.coco-mat-hotels.com

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