Alles Theater

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Das Theater in der Josefstadt gewährte der "freizeit" spektakuläre Einblicke in die Welt der Bühne. Eine Reise auf die andere Seite des Vorhangs.

Jeder Handgriff sitzt. Muss sitzen. Perfekt aufeinander abgestimmt huschen dunkel gekleidete Gestalten über die Bühne, wuchten Transportwagen um enge Kurven, hängen schwere Boxsäcke an Ketten, die vom Schnürboden herabhängen. Ein Ballett aus Ton- und Lichttechnikern, Bühnenarbeitern und Requisiteuren, das sich nach einer streng zielgerichteten Choreografie bewegt: In der Pause eines Theaterstücks haben sie maximal 15 Minuten Zeit für den kompletten Umbau des Bühnenbildes.

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Nach und nach mischen sich die Schauspieler in die Szenerie, fügen sich harmonisch ins Bild. Gregor Bloéb, der "Boxer", tänzelt über die Bühne, duckt sich unter imaginären Schlägen weg, feuert bissige Jabs mit der linken Führungshand ab, um dann eine schwere Rechte zu landen. Geräuschlos bewegen sich seine Lippen, er geht seinen Text durch, während er Schläge austeilt, ist völlig in seiner Rolle versunken, genau so stellt man sich den Schauspieler vor, wer ihn jetzt stört, ihn rücksichtslos aus der Konzentration reißt, ist des Todes und das völlig zu Recht. Aber das wird nicht passieren, zu routiniert und rücksichtsvoll kurvt das Ameisenheer der Arbeiter um den Star herum – "Ah, Sch..., net scho wieda", ruft plötzlich ein junger Mann und hält die Hände vors Gesicht. Als wäre er aus einer Trance erwacht, lässt Bloéb langsam die Fäuste sinken. Während er fokussiert, werden seine Augen zu schmalen Schlitzen. Der junge Bühnenarbeiter richtet sich auf, grinst ihn an. Bloéb hat ihn nicht einmal berührt – alles ein Schmäh. Niemand beachtet die beiden, der Schauspieler hebt die Fäuste wieder, man rechnet mit dem Schlimmsten, doch Bloéb lächelt nur kaum merklich zurück und nimmt, als wäre nichts gewesen, den Kampf gegen die Schatten seiner zukünftigen Gegner wieder auf.

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"Der is schwa in Ordnung, der Gregor", werden mir die Bühnenarbeiter später übereinstimmend berichten. "Tigert si eine, unglaublich – und is trotzdem nie arrogant oda so irgendwos ..."

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"Was schreiben Sie da?", fragt plötzlich eine gefährlich leise Stimme. Ein junger Nazioffizier hat sich breitbeinig vor mir aufgebaut, schlägt sich mit den Handschuhen ungeduldig auf die Handfläche. Ich fühle mich tatsächlich ertappt, stammle etwas von einer Reportage, während der Offizier skeptisch die Brauen runzelt. "Weitermachen", sagt er schließlich augenzwinkernd und schließt sich einer Gruppe anderer Uniformierter an, die am Bühnenrand steht. Die schöne Hilde Dalik erscheint kurz am Seiteneingang, blickt auf das Gewusel vor ihr, allein, regungslos wie eine tragische Heldin. Was denkt eine Schauspielerin in so einem Moment? Die Klingel des Inspizienten reißt die Beobachtete aus der Betrachtung des Geschehens, Dalik geht ab, die Bühne beginnt sich zu leeren, während von der anderen Seite des Vorhangs die vertrauten Geräusche eines Theaterbesuchs langsam lauter werden: das Schuhescharren, gedämpftes Reden und Hüsteln einer wartenden Zuschauermenge. Apropos Klingeln: Was macht eigentlich der Inspizient eines Theaters, außer zu klingeln? Claudio, seit 21 Jahren in dieser Position an der Josefstadt tätig, lächelt mich müde an. "Eh kaum was", sagt er.
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Aber in Wahrheit laufen bei ihm alle Fäden zusammen. Jede Tür, die sich öffnet oder schließt, alles, was vom Schnürboden heruntergelassen wird oder entschwebt, folgt seinem Kommando. "Bei einem Stück waren's 300 technische Zeichen, nur um eine Schiebetür zur richtigen Zeit zu öffnen und zu schließen", erinnert sich Claudio. Und schließlich, gar nicht unwichtig, ist er auch der Herr über den Vorhang. Wenn alle Stricke reißen, sich jemand auf der Bühne verletzt oder krank wird oder die Schauspieler kollektiv ihre Texte vergessen haben, ist er es, der entscheidet: "Vorhang!" Und die aus den Fugen geratene Welt des Theaters vor unseren neugierigen Blicken schützt. Ist ihm das in der Josefstadt schon passiert? "Nein", sagt Claudio, "aber davor. An den Kammerspielen. Eigentlich nicht Schlimmes, aber doch ausweglos ..." In einer Szene von "Othello darf nicht platzen" sollte sich Otto Schenk betrinken. Prinzipiell kein gefährlicher Stunt. Wenn da nicht der Korken der Weinflasche abgebrochen wäre. Und dann auch noch der in der Ersatzflasche. "Und der in der letzten Flasche is nicht rausgangen – es war wie verhext. Sowas ist mir noch nie passiert. Und dem Otto wahrscheinlich auch nicht." Nach einer kurzen Pause ging der Vorhang wieder hoch, Herr Schenk begrüßte das Publikum mit einem vollen Glas und einem "Prost". Tosender Applaus.
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Für Michaela sollte die Zeit, während die Schauspieler auf der Bühne sind, eigentlich relativ entspannt sein. Seit 23 Jahren ist sie für die Garderobe der Bühnenstars zuständig. Und angezogen werden die in der Regel vor ihrem Auftritt. "Najo", sagt sie, "hin und wieder kriegn wir schon auch nachher noch an Stress." Wenn eine Hose platzt zum Beispiel. "A Nähkisterl hab i immer dabei." Heute ist der Stress vorprogrammiert. Lupo Grujčić spielt eine Doppelrolle, innerhalb von drei Minuten muss er seitlich der Bühne komplett umgezogen werden.
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"Oba wir ham unsere Leut immer no rechtzeitig adrett auf die Bühne gschickt", sagt Michaela. "Außer, wenn’s abgrissen ausschauen solln", wirft ihr Kollege ein. "Jo, dann natürlich ned", sagt Michaela. Kaum jemand kann von sich behaupten, Stars so hautnah zu erleben, wie die Damen und Herren, die sie vor ihren Auftritten aus- und anziehen. Bis auf die Unterhose, "wann s' mitspült", also dramaturgische Relevanz hat, was in Theaterstücken öfter vorkommt als man annehmen würde. Wie ist das so? "San halt Menschen, wie wir a", sagt Michaela. "Haklich sein dürfen s’ jedenfalls net." Dabei geht’s nicht nur um beabsichtigt fadenscheinige und – mit natürlich klinisch sauberem – Schmutz bearbeitete Kostüme, die bei manchen Schauspielern skeptische Blicke auslösen, sondern vor allem auch um den Geruch. "Net falsch verstehn – des is olles wirklich sauber, direkt aus der Reinigung", erklärt Michaela. Aber Premierenangst, körperliche Höchstleistung und mottensichere Aufbewahrung hinterlassen einfach olfaktorische Spuren, die jeder chemischen Reinigung widerstehen. Michaelas Tipp: Mit einem Wasser-Wodka-Gemisch einsprühen. "Die Sprays zum Kaufen kannst vergessen. Wenn was hilft, dann des."

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Sonst sind ihre Kunden so unterschiedlich, wie Menschen im richtigen Leben eben auch. Manche legen sich penibel sämtliche Requisiten zurecht, immer am gleichen Fleck, in der gleichen Reihenfolge – andere suchen in letzter Sekunde noch das für die nächste Szene wichtige Feuerzeug. Manchen läuft sie regelmäßig mit dem Schlüssel oder der Geldbörse bis zur Bühne nach, beinahe wie eine lang angetraute Gattin. Generell kann man sagen, "dass Frauen scho a bissl strukturierter san". Mit der Nervosität vor dem Auftritt geht jeder auf seine Weise um. "Manche tan no Schmäh führn, wenn s' von der Garderobe zur Bühne gehn, die san, als würden s' erst beim Auftritt an Schalter umlegen – und andere reden scho a Stund vorher nix, was net mit ihrer Rolle zu tun hat. A bissl a Gspür muss ma da scho haben, wer wie drauf is, wer was braucht."

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Jede Menge "Gspür" hat auch Pasquale, der die Kantine in der Josefstadt leitet. Wie jeder gute Wirt und Barkeeper ist er ein geduldiger Zuhörer, der mit Ratschlägen sparsam umgeht. Bei ihm treffen sich Stars und Statisten, Kreative und Arbeiter. Gregor Bloéb kommt nach der Vorstellung als erster, wortkarg und abgekämpft, als hätte er tatsächlich einen Boxkampf auf Leben und Tod hinter sich. Hilde Dalik bezaubert mit beinahe kumpelhaftem Charme, die gefährlichen Nazioffiziere haben sich in eine Gruppe sympathischer junger Männer zurückverwandelt, die nach der Arbeit gemeinsam ein Bier trinken. Neben Gregor Bloéb, der langsam wieder auf Touren kommt und einer bunt zusammengewürfelten Männerrunde abenteuerliche Geschichten erzählt, ist ein kleiner Tisch frei. "Da isse der Fritz Muliar immer gesessen. Mein Gott, ich sehe ihn noch vor mir, mit seine gelbe Pullover, ganz allein an seine Tisch. Ich hab ihm noch einen Kirschkuchen gebracht, den hat er so gemocht. Und in der Nacht ist er dann ..." Pasquale schlägt die Augen nieder.
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Die Bühne ist jetzt so gut wie leer, die Techniker haben rasche Arbeit geleistet. Gleich werden die Putztrupps kommen. Der Holzboden schwingt ganz leicht, wenn man darauf geht. Im Rücken die Mauer eines angrenzenden Wohnhauses als Horizont, vorne eine Art Rahmen, der den Blick auf den erschreckend großen Zuschauerraum freigibt. Von seiner Rückseite schauen die runden Augen unzähliger Scheinwerfer teilnahmslos an mir vorbei. Über mir ein Himmel voller Stahlträger, Flaschenzüge, Scheinwerfer und Kabelstränge. So ist das also. Von hier aus nehmen uns die Theaterleute mit auf Reisen durch die Zeit, in jeden entlegenen Winkel der Welt – und der menschlichen Seele.

Das ist schon eine Art Magie ...

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