Frank Castorf und Nikolaus Habjan im Landestheater Niederösterreich
„Der Herzschlag der Sprache“: Frank Castorf inszeniert „Schwarzes Meer“
Am 29. Jänner passierte im Landestheater Niederösterreich recht Ungewöhnliches: Frank Castorf, stilprägender Regisseur und viele Jahre Intendant der Berliner Volksbühne, brachte den Monolog „Schwarzes Meer“ von Irina Kastrinidis umjubelt von Presse und Publikum zur Uraufführung. Thomas Trenkler schrieb in seiner Rezension von einem „ganz großen Abend“ in dem „Julia Kreusch unglaubliches leistet“. Die Autorin erklärt hier im Interview die Hintergründe zu ihrem ersten Stück.
KURIER: Es ist ja eher ungewöhnlich, dass Frank Castorf in St. Pölten inszeniert – noch dazu ein Stück seiner Exlebensgefährtin. Wie kam es zu dem Projekt?
Irina Kastrinidis: Wenn ich Texte schreibe, werden diese gewöhnlich erst einmal in meinem engeren Umfeld gelesen. Zu diesem Umfeld gehört natürlich auch Frank Castorf. So ergab sich das Eine aus dem Anderen.
Sie wurden 1978 in Zürich geboren, absolvierten die Schauspielausbildung – und waren ab 2004 an der Berliner Volksbühne engagiert, die damals von Castorf geleitet wurde. Was hat Sie bewogen, die Seite zu wechseln – und Autorin zu werden? Beziehungsweise: Helfen Ihnen die Erfahrungen auf der Bühne beim Schreiben?
Ich habe nie die „Seiten gewechselt“, da ich immer schon geschrieben habe. Nun war die Zeit reif, einen Teil des von mir Geschriebenen zu veröffentlichen. Klar, dass mir alle am Theater erworbenen Erfahrungen dabei helfen, mich nicht alltäglich in der Sprache zu bewegen.
Castorf sagte in einem Interview, dass Sie in „Schwarzes Meer“ die Geschichte Ihrer Familie bzw. das Schicksal der Pontus-Griechen aufarbeiten. Inwiefern?
Ein Teil meiner Familie väterlicherseits stammt von der Schwarzmeerküste, dem Pontos. Viele Griechen wurden 1923 zwangsumgesiedelt, verloren alles und mussten sich völlig neu orientieren. Es hat eine Entwurzlung stattgefunden, und die Suche zurück nach diesen Wurzeln hat mich beschäftigt. Ich bin aus der dritten Generation und wollte diesem Schicksal eine Stimme geben. Eine ähnliche Thematik erleben wir doch ganz ähnlich wieder. Wohl noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute.
Sie verwenden zum Teil eine sehr archaische, von den Epen Homers beeinflusste Sprache. Warum?
Mich interessiert die Dynamik, über einen bestimmten, immer wiederkehrenden Sprachrhythmus eine Emotionalität zu erzeugen und darüber hinaus in einen einer Trance ähnlichen Zustand zu gelangen. Auch der Tanz der Pontos-Griechen ist stark rhythmisiert, und die Musik besteht aus klar abgegrenzten, rhythmisierten Wechseln. Irgendwann wird alles immer schneller und der Körper überwindet die Gedanken. Der Herzschlag der Sprache soll leitend sein. Von Homer sind wir wahrscheinlich alle irgendwie beeinflusst, wenn es um gesangartige Texte geht.
In Ihrem Monolog, der wie ein Mosaik erscheint, gibt es mehrere Zeitebenen und Orte – von Istanbul 1920 bis Zürich in der Gegenwart. Und es gibt ununterbrochen Anspielungen auf die griechische Antike. Aber auch die Herausforderungen der Jetztzeit, etwa die Pandemie, sind eingeflossen. Kann man von einem dramatischen Gedicht sprechen?
Absolut! Das Ganze ist wie ein Fluss, ein Gesang oder eben ein dramatisches Gedicht.
Sie haben auch ein tatsächliches Ereignis eingestreut – Sie realisierten mit Castorf am Zürcher Schauspielhaus Dürrenmatts „Justiz“. Muss man also viel wissen, um dem Text folgen zu können?
Ich wurde schon gefragt, ob ich zum Text Erläuterungen zur Verfügung stellen sollte. Dafür habe ich Verständnis. Je mehr man aber zu diesem Text „wissen“ will, umso weniger wird man ihm wohl „folgen“ können.
In „Justiz“ spielte Mikis Kastrinidis, der Sohn von Ihnen und Castorf, mit. Er ist auch bei dieser Produktion dabei. Ist das nicht ein wenig viel „Family Business“?
Künstlerische Arbeiten haben oft etwas mit Familie in einem weiteren Sinn, mit Vertrautheit zu tun. Family und Business im engeren Sinn spielen zumindest bei mir keine Rolle.
Wäre es nicht logisch gewesen, dass Sie die Erzählerin Elefteria spielen? Oder: Warum ist es Julia Kreusch, die ebenfalls in „Justiz“ mitspielte?
Elefteria selbst zu spielen, wäre für mich ein zu großes Wagnis gewesen. Ich habe mich bei diesem Gedanken nur sehr kurz aufgehalten. Ich finde es richtig, dass diese Rolle von jemand anderem mit einer eigenen Sichtweise auf das Ganze gespielt wird. Julia Kreusch und mich verbindet eine lange Bekanntschaft und mittlerweile eine Freundschaft. 2009 spielten wir zum ersten Mal zusammen im „Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz, damals in der Regie von Frank Castorf. Danach folgten weitere gemeinsame Arbeiten. Als Julia Kreusch meinen Text „Schwarzes Meer“ gelesen hatte, war sofort klar, dass sie diese Rolle spielen wird. Sie bringt den norddeutschen Pragmatismus in die griechische Tragödie. Das gefällt mir.
Mächtige Emotionen mit Puppenhilfe: Nikolaus Habjan inszeniert „Die Blendung“ von Elias Canetti
Peter Kien lebt nur für seine Bücher. Die 25.000 Bände seiner Bibliothek sind alles für ihn. Von der wirklichen Welt draußen verschließt er seinen Blick. Dass der Hausbesorger Pfaff seine Frau tot prügelt und seine Tochter vergewaltigt, bekommt Kien nicht mit. Er lebt in seinem Kosmos. Elias Canetti hat seinen Roman „Die Blendung“ 1935 veröffentlicht. 1981 bekam er den Literaturnobelpreis. Der Puppenspieler Nikolaus Habjan bringt diesen Roman nun im März auf die Bühne des Landestheaters.
Die Fassung fertigt der österreichische Schriftsteller Paulus Hochgatterer. Er nennt diesen Roman einen „entfesselten Golem, der sich narrativ an kein Schema hält, metaphorisch wild um sich schlägt und sprachlich – wie aus Wut über eine zuvor verordnete Stummheit – ein Hagelgewitter an Hauptsätzen auf die Welt loslässt“, kommentiert Hochgatterer das Formale. Mit der „Blendung“, setzt er fort, „kämpft man, man duckt sich ihr gegenüber, man möchte vor ihr davonlaufen; sie gönnt einem an keinem Punkt Entlastung oder gar Leichtigkeit, sondern, im Gegenteil, zeigt den Menschen vor allem dort, wo er starr, gewalttätig oder hinterhältig ist. Das alles gelingt dadurch, und das ist der Hinterhalt der Geschichte, dass man als Leser der Identifikation mit dem Rahmenthema – der Obsession für Bücher – nicht entkommen kann.“
Großartige Charaktere
Nikolaus Habjan war dem Stoff erstmals in Graz am Schauspiel begegnet in der Version von Friederike Heller. Das Stück hat ihn auf den Roman gebracht. „Dieses Sammelsurium an großartigen Charakteren, Peter Kien, Therese Krumbholz, seine Ehefrau, der Betrüger Fischerle oder dieser grässliche Pfaff, der Hausmeister“, zählt Habjan das Personal auf. „Die Figuren sind auf den ersten Blick ziemlich unsympathisch, Georg, Kiens Bruder ist da noch am sympathischsten“, so Habjan.
Vieles in diesem Roman sollte uns auch heute beschäftigen, sag Habjan. „Ich habe den Eindruck, dass alle meine Arbeiten im Hier und Jetzt verankert sind, auch wenn sie in der Vergangenheit angesiedelt sind. Ich werde aber nicht holzhammerartig darauf hinweisen“, sagt Habjan.
Unser Leben heute sei in gewisser Hinsicht wie im Roman: Man sollte sich mit gewissen Dingen beschäftigen, tut das aber nicht, weil man zu sehr in seiner eigenen Blase verhaftet sei, meint Habjan. „Ich versuche, Emotion auf der Bühne zu zeigen, denn Empathie und Emotion geht dem Theater heute immer mehr ab. Im Theater geht’s nur noch um Problemlösung, aber nicht um Emotion. Aber nicht nur im Theater, Empathie und Emotionen fehlen uns generell, in der Gesellschaft, in der Schule, in der Politik. Und mit Puppen kann man mächtige Emotionen erzeugen. Emotionen, wie man sie eigentlich nur von einem beseelten Wesen erwartet. Aber die Puppe kann das auch“, so Habjan.
Das Puppentheater sei überhaupt ideal, diesen Roman zu zeigen, denn das Geschehen changiert immer wieder ins Surreale. „Der Vorteil ist der, dass Puppentheater einen Sonderstatus hat, weil es mit der Realität bricht, eine Puppe per se niemals real ist. Auf der Bühne muss Wahrhaftigkeit sein, aber es darf keine Realität sein, Theater ist immer die Auseinandersetzung mit der Realität.“
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