Zivilisationsflucht de luxe

Zivilisationsflucht de luxe
Die Hüttenarchitektur wurde reloaded. Die neuen Hideaways fernab vom Mobilempfang kommen von namhaften Designern in Fertigteil-Avantgarde und können an jedem noch so entlegenen Winkel dieser Welt aufgestellt werden.

Je digitaler unser Leben, desto analoger unsere Sehnsüchte. Im algorithmusgesteuerten Alltag sind wir auf farblich umrandete Zahlen fixiert, die mit neuen Inhalten auf unseren sozialen Kanälen locken. Schöne Momente klopfen wir erst auf ihre Instagrammability ab, anstatt sie zu leben. Und wenn wir uns im Internet virtuell zur abgelegenen Waldhütte beamen, winkt im Banner gleich die versandfertige Blockhütte vom nächstgelegenen Baumarkt. Doch in unserem Traum vom Leben off the grid hat die Blockhütte längst ausgedient. Neuerdings leben wir die Zivilisationsflucht in avantgardistischer Hüttenarchitektur. Namhafte Architekturbüros haben prototypisierte Cabins im Angebot, die jeden noch so stilbewussten Hipster glücklich machen.

Inspiration für Zivilisationsmüde

Für gestresste Stadt-Eskapisten gibt es sowohl digital als auch analog jede Menge Inspiration für das Leben im Offline-Retreat. Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau verfasste bereits 1854 „Walden“, ein Manifest für Aussteiger. Es ist die Mutter aller Simplify-your-life-Bibeln, die Naturschützer, Alternative und burnoutgebeutelte Yuppies gleichermaßen im Gepäck haben. 

Ich habe eigentlich meine eigene Sonne, Mond und Sterne und eine kleine Welt für mich allein. Ich hätte der erste oder der letzte Mensch sein können.

von Henry David Thoreau

Thoreau baute sich eine Hütte am Walden-Teich, unweit seines Geburtshauses in Concord, Massachusetts. In seiner weltlich geprägten Einsiedelei besann er sich auf das Wesentliche und ließ alles Aufgesetzte und Äußerliche hinter sich. In seinem Werk beschwört er die Menschwerdung in der Natur durch die existenzielle Reduktion: „Ich habe eigentlich meine eigene Sonne, Mond und Sterne und eine kleine Welt für mich allein. Ich hätte der erste oder der letzte Mensch sein können.“

Das Phänomen Cabin Porn

Und hier der etwas zeitgemäßere Suchbegriff für alle, die plakative Inspiration für naturnahe Hideaways suchen: Cabin Porn. Nach Food Porn, Ruin Porn, Shoe Porn und Earth Porn der nächste jugendfreie Hashtag für den digitalen Voyeur. Der gleichnamige Instagram-Account gehört Zach Klein, dem Mitbegründer von Vimeo und DIY.org

Er startete Cabin Porn vor über zehn Jahren als einfachen Tumblr-Blog für Hüttenliebhaber, der durch die Decke ging. Nach einem Bildband, der bereits in sieben Sprachen übersetzt wurde, erscheint nun mit Cabin Porn Inside die Ausgabe zum stilgerechten Interieur für das Wildnis-Retreat. 

Klein hat mit seinen Hüttenbildern eindeutig einen Nerv getroffen. Ähnlich wie beim Tiny-House-Hype weckt Cabin Porn den idyllischen Traum vom einfacheren Leben im Wald. Holzhacken als Digital Detox. Nichtstun mitten im Nirgendwo, der neue Luxus unserer Zeit.

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Im Folgeband zeigt Zach Klein, wie die Must-Have-Hütten von Innen aussehen.

Hyggelige Avantgarde

Mit dem Trendwort hyggelig (aus dem Dänischen/Norwegischen: gemütlich, gut) beschreibt das renommierte Architekturbüro BIG des Dänen Bjarne Ingels sein Hütten-Konzept A45. Komfort und Design des verwinkelten Baukörpers entsprechen ganz dem nordischen Minimalismus – von der sichtbaren Holzrahmenkonstruktion mit natürlicher Kork-Isolierung bis hin zum Morsø-Holzofen und den handgefertigten skandinavischen Design-Möbeln. Das gesamte Bauwerk samt Mobiliar besteht zu 100 Prozent aus biologisch abbaubaren Materialien.

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Dreieckige Seitenwände auf quadratischer Grundfläche: der Hütten-Prototyp A45 von Bjarke Ingels Group

Der erste Prototyp mit einer satten Raumhöhe von vier Metern wurde auf einer quadratischen Grundfläche von 17m2 in Upstate New York errichtet. Die Hütte besteht aus fertigen Bauelementen, die personalisierbar sind und auf Wunsch an den entlegensten Ecken der Welt zusammengefügt werden. Die Bauzeit beträgt vier bis sechs Monate.

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Sichtbarer Holzrahmen und Kork zur Isolierung: Bauweise und funktionelle Elemente müssen nicht versteckt werden.

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Klein aber fein: die Einbauküche von Københavns Møbelsnedkeri

Ein Leben ohne Fußabdruck

Was Hütten mit Hipness- und Hygge-Faktor angeht, sind die Skandinavier Pioniere. Aber nicht nur da. Der finnische Mineralölkonzern Neste und Designer Robin Falck zeigen mit der Hütte Nolla (auf Deutsch: Null), dass da noch mehr geht. Null steht in diesem Fall für die Emissionslosigkeit des stadtfernen Domizils. Die solarbetriebenen Low-impact-Cabins lassen die Herzen zivilisationskritischer Baumumarmer noch höher schlagen. Der Strom kommt aus der Sonne, gekocht und geheizt wird mit erneuerbarem Bio-Diesel.

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Zimmer mit Aussicht: Die Hütte Nolla auf der finnischen Insel Vallisaari ist als emissionsfreies Natur-Retreat konzipiert.

Die Hütte kann ohne schwere Gerätschaften transportiert und zusammengebaut werden. Nicht einmal Schrauben, Akkubohrer oder Ikea-Inbus-Schlüssel werden dafür gebraucht. Stattdessen können die einzelnen Teile wie ein Puzzle zusammengesetzt werden.

Die Hütte ist ein Experiment, wie wir mit weniger leben können und mehr Zeit haben, die Natur um uns herum zu genießen.

von Robin Falck

Der Prototyp steht auf der Insel Vallisaari, die 15 Minuten per Boot von Helsinki entfernt liegt und bis 2016 unbewohnt war. Auf dem naturbelassenen Eiland wurde der Versuch angetreten, dass ein komfortables Leben ohne CO2-Emissionen mit den derzeit vorhandenen Mitteln bereits möglich ist. Nolla steht auf einem Küstenfelsen als Manifest für ein fossilfreies Leben und eine mögliche Zukunft des nachhaltigen Tourismus. 

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Die Stelzen können jedem Untergrund angepasst werden.

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Hygge par excellence: die Inneneinrichtung der Hütte Nolla.

„Im Wesentlichen ist das Nolla-Konzept ein Experiment, wie wir mit weniger leben können und mehr Zeit haben, die Natur um uns herum zu genießen. Dieser Gedanke war in jeder Phase des Designprozesses bestimmend“, sagt Robin Falck über das Nolla-Konzept. „Ich wandere gern und verbringe viel Zeit in der Natur. Dabei bin ich draufgekommen, dass eine Wohnstatt in der Größe eines Zeltes für das Leben ausreichend ist.“ Eine Aussage, der Henry David Thoreau mit Sicherheit zugestimmt hätte.

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Matthew Carbone / BIG, Jalkia Jattaatta / Neste

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