Von der Plaza zur Sitzbank
Wakayama, Tenryū, Hokkaido, Tokio. Dies sind nur ein paar der geografischen Bezeichnungen, die als Stempel auf dem Holz zu lesen sind. Die Stützen, Träger und Balken für den „olympischen Dorfplatz“ kamen aus den unterschiedlichsten Regionen Japans. Nach dem Fällen der Bäume wurde das Holz getrocknet und in einem regionalen Sägewerk verarbeitet. Die vorgefertigten Bauelemente verfrachtete man schließlich nach Tokio, wo ein Montageteam sie nach einer digitalen Modellierung, dem sogenannten Building Information Modeling (BIM), zusammensetzte. So wurde aus den Plänen des Architekturbüros Nikken Sekkei die Athlete’s Village Plaza.
Die temporäre Struktur diente während der Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 in Tokio als Veranstaltungszentrum, in dem sich Athleten, Medienvertreter und Gäste trafen. Sie umfasste mehrere Kubaturen, allesamt eingegliedert durch einen zentralen Street Garden. Ein wichtiger Anspruch an das Design war es, dass die eingeschossige Struktur leicht zugänglich war und den Ansprüchen mobilitätseingeschränkter Personen entsprach.
Engawa, ein bewusster Zwischenraum
Das Ergebnis war ein Raumkonzept, das die traditionelle japanische Architektur feierte und ihr zugleich mit dem modernen Holzbau ein Update verpasste. Im Entwurf findet sich ein Zitat der traditionellen Engawa. Auch wenn sie in der Übersetzung meistens als Veranda oder Loggia bezeichnet wird, so ist sie weit mehr als nur eine überdachte Terrasse. Durch Verlängerung von Boden und Decke in den Außenraum bildet sie einen Korridor, der Wohnraum und Garten miteinander verbindet.
Die Village Plaza schafft einen feierlichen Raum, der japanische Atmosphäre, die Leichtigkeit zeitgemäßer Architektur und die Geschmeidigkeit von Holz vermittelt.
Dabei gilt sie als bewusste Zwischenzone, die sich aus architektonischer Sicht weder dem Innen- noch dem Außenraum zurechnen lässt. Auch ihre Funktion ist nicht strikt festgelegt, sondern sie ist vieles in einem – Sonnenschutz, Windfang, Ruhepol und Platz für informelle Treffen.
Drei unterschiedliche Tragwerkskonstruktionen
So einen geschützten Platz im Freien, der vielseitig nutzbar und kommunikativ ist, hatten auch die Architekten von Nikken Sekkei im Sinn. „Die Village Plaza schafft einen feierlichen Raum, der japanische Atmosphäre, die Leichtigkeit zeitgemäßer Architektur und die Geschmeidigkeit von Holz vermittelt“, fassen sie die architektonische Wirkung zusammen.
Je nach Art und Funktion des Raumes setzten die Architekten drei unterschiedliche Rahmenkonstruktionen ein. Für kleinere Räume wie Büros wurden Stahlstreben mit senkrechten und diagonalen Trägern verbunden, um so eine erdbebensichere Struktur zu erhalten. Bei größeren Räumen sorgen Einheiten von jeweils drei verdrehten Holzstreben für die nötige Stabilität, während eine Bogenkonstruktion mit verzweigten Winkelträgern das weitgespannte Dach für den Pressesaal bildet.
Spezialisten im Holzbau
Mit den unterschiedlichen Tragwerken kreierten die Architekten eine eigene Formensprache. Anstatt auf traditionelle und in der Praxis erprobte Konstruktionen zu setzen, entwarfen sie neue Modelle, die nicht nur der statischen Notwendigkeit in einem Erdbebengebiet entsprachen, sondern zugleich zur Ausdrucksform erklärt wurden.
Das 1900 gegründete Architekturbüro Nikken Sekkei ist das älteste Japans und mit über 2.800 Mitarbeitern auch das größte Planungsbüro des Landes. Seine Erfahrung im Holzbau schlägt sich unter anderem im preisgekrönten Projekt W350 nieder. Bis 2041 soll in Tokio ein 350 Meter hoher Wolkenkratzer in der Höhe ragen, der zur Gänze aus Holz gebaut wird. Im selben Jahr feiert der Forstwirtschaftskonzerns Sumitomo Ringyō, der den Bau beauftragt hat, sein 350-Jahr-Jubiläum.
Rückbau in 40.000 Einzelteile
Die unterschiedliche Beschaffenheit des Baumaterials machte das olympische Projekt in Tokio sehr komplex. Sogar innerhalb derselben Holzsorte gab es regionale Unterschiede, was die Belastbarkeit und Festigkeit des Materials angeht. Mithilfe von BIM katalogisierten die Architekten das Holz nach seinem Feuchtigkeitsgehalt und seiner Belastbarkeit auf Zug und Druck. So fand das System für jedes Teil den idealen Platz in der jeweiligen Tragwerkskonstruktion.
Nach dem Ende der Spiele zerlegten die Monteure die Athlete’s Village Plaza wieder in ihre Einzelteile. Um genau zu sein: in 40.000 Holzbauteile, die man anschließend wieder an die Ursprungsregionen zurückschickte. Dort entstanden aus dem Holz Mobiliar und andere Projekte für den öffentliche Raum.
Dieses Projekt zeigt, welche Möglichkeiten sich durch die digital vernetzte Planung auftun und wie sehr das kreislauffähige und nachhaltige Bauen an die Digitalisierung gekoppelt ist. Ein derart komplexes Bauvorhaben vom Sourcing des Materials bis zum Rückbau zu koordinieren wäre ohne die Hilfe des digitalen Zwillings nur schwer machbar gewesen. Eines steht fest:Die sinnvolle Wiederverwendung des gesamten Baumaterials war eine olympische Leistung.
Text: Gertraud Gerst Fotos: Gankosha, Harunori Noda
Lesen Sie weiter im UBM Magazin, der Plattform für Immobilienwirtschaft, Stadtplanung und Design.
Kommentare