Solar-Wolke über Sevilla
Die Europäische Kommission betreibt insgesamt sechs gemeinsame Forschungsstellen in der EU, die zusammen das Joint Research Center (JRC) bilden. In der südspanischen Stadt Sevilla begann man 1994 mit einem kleinen Team an Wissenschaftlern, heute zählt das Institut zum zweitgrößten Standort in der EU. Hier sind rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, darunter Ökonomen, Steuerrechtsexperten und Fachleute für Digitalisierung, Kreislaufwirtschaft und Klimawandel. Bislang sind sie auf dem ehemaligen Expo-Gelände auf der Isla de la Cartuja untergebracht, im Hauptgebäude der Weltausstellung von 1992. Der Bau des Architekten Antonio Vázquez de Castro war zur Zeit seiner Errichtung ein Symbol von Modernität und Innovation. Durch die vollständig verglaste Pyramide, die auf einem rötlichen Sockel ruht, wird der Garten im Inneren mit natürlichem Tageslicht versorgt.
Nun soll auf einem unmittelbar angrenzenden Grundstück ein neuer Hauptsitz des Forschungszentrums entstehen. Der siegreiche Entwurf des dänischen Star-Architekten Bjarke Ingels übersetzt den Modernitätsanspruch des Bestandsbaus in die heutige Zeit, während sich die Umrisse des Neubaus an der Pyramide de Castros anlehnen. Damit fügt sich das neue Joint Research Center in den städtebaulichen Kontext Sevillas ein.
Neues Europäisches Bauhaus
Künftig werden am neuen Standort bis zu 450 Beschäftigte Platz finden, darüber hinaus soll das Gebäude eine Reihe an Konferenz- und Veranstaltungsräumen bieten. Die konzeptionell wichtigste Anforderung, die die Europäische Kommission an den Neubau stellte, war sein Beitrag zur kulturpolitischen Initiative Neues Europäisches Bauhaus.
Von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Jahr 2020 ins Leben gerufen, soll damit eine kreative und interdisziplinäre Bewegung – ähnlich dem historischen Bauhaus von Walter Gropius – ausgelöst werden. Ein Versuch, den European Green Deal in alle Lebensbereiche zu tragen. Ziel der Initiative ist es, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen und eine Nachhaltigkeit zu etablieren, die Umwelt und Gesellschaft gleichermaßen erfasst.
CO2-armer Beton unter der Pergola-Wolke
Unter den anderen Beiträgen des Architekturwettbewerbs fanden sich einige Holzbauprojekte. Doch mit seinem Konzept einer stromproduzierenden „Pergola-Wolke“, die das gesamte Gelände überspannt, konnte sich das Kopenhagener Büro BIG gegen heimische Konkurrenten wie Dorte Mandrup und COBE durchsetzen. Zwar setzt BIG im Konzept auf herkömmliche mineralische Bauweise, der verwendete Beton sei allerdings um bis zu 30 Prozent CO2-reduziert, wie das Büro in seiner Projektbeschreibung mitteilt.
Beim Innenausbau sollen lokale Baumaterialien wie Kalkstein, Holz und Keramikfliesen zum Einsatz kommen, für den Bau der Pergolas sei recycelter Stahl vorgesehen. Abgesehen davon bezieht sich die Nachhaltigkeit des Konzeptes in erster Linie auf den Gebäudebetrieb. Die kuppelförmige Überdachung besteht aus aufgeständerten Photovoltaikpaneelen, die nicht nur Sonnenstrom produzieren, sondern auch Regenwasser sammeln und das Gebäude mitsamt seinen Außenbereichen beschatten.
Mit unserem Entwurf haben wir vor allem versucht, aus der nachhaltigen Performance des Gebäudes eine architektonische Ästhetik abzuleiten, die nicht nur die Leistung des Gebäudes verbessert, sondern es auch komfortabler und schöner macht.
Auf diese Weise entstehe im Gebäude eine hohe Aufenthaltsqualität und gute Lichtverhältnisse, während der Energieverbrauch zugleich gesenkt werde. „Mit unserem Entwurf haben wir vor allem versucht, aus der nachhaltigen Performance des Gebäudes eine architektonische Ästhetik abzuleiten, die nicht nur die Leistung des Gebäudes verbessert, sondern es auch komfortabler und schöner macht – eine neue ökologische Architektursprache für Andalusien“, erklärt Architekt Bjarke Ingels.
Ergänzung für den öffentlichen Raum
Inspiration für die Pergola-Wolke lieferten nämlich die Straßen, Plätze und Patios von Sevilla, die meist durch Bäume beschattet sind. Die bekannteste Pergola der andalusischen Stadt und zugleich eines ihrer Wahrzeichen ist der Metropol Parasol, wegen seiner Form von den Bewohnern meist Las Setas (die Pilze) genannt. Der ikonische Holzbau von J. Mayer H. hat einst eine totgeglaubte Plaza zu neuem Leben erweckt.
Das neue Joint Research Center soll seinerseits den öffentlichen Raum des Stadtgebietes westlich des Zentrums positiv mitgestalten. Durch die diagonale Ausrichtung der Freiflächen möchte man an die grüne Flusspromenade Jardín Americano anknüpfen, die im Zuge der Weltausstellung 1992 entstand. Auf der anderen Seite ergibt sich der Anschluss an den größten begehbaren Dachgarten Spaniens, der in den kommenden Jahren vor dem 180 Meter hohen Torre Sevilla entstehen soll.
Architektonisches Aushängeschild
Mit dem Neubau der gemeinsamen Forschungsstelle in Sevilla bekommt die wissenschaftliche Arbeit der EU-Kommission ein architektonisches Aushängeschild, das die Ziele des Neuen Europäischen Bauhauses verkörpert. Der südspanischen Metropole Sevilla beschert der Bau neuen öffentlichen Raum und eine weitere touristische Attraktion, die obendrein dazu beiträgt, die Dekarbonisierungsziele der Stadt ein Stück weit voranzutreiben. Die Isla de la Cartuja soll nämlich in naher Zukunft mit 100 Prozent erneuerbarer Energie versorgt werden.
Das Gebäude mit einer Nutzfläche von 9.900 Quadratmeter verfügt über ein eigenes Solarkraftwerk. Die Paneele sind nicht wie üblich an der Außenhülle des Gebäudes montiert, sondern bilden zusammen einen multifunktionalen Schirm, der klimaregulierend wirkt und den Energieverbrauch senkt. Ein Modell, das vor allem in südlichen Städten Schule machen könnte.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: Bjarke Ingels Group
Lesen Sie weiter im UBM Magazin, der Plattform für Immobilienwirtschaft, Stadtplanung und Design.
Kommentare