Pilgern von Raum zu Raum
San Miguel de Allende im mexikanischen Bundesstaat Guanajuato blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. 1542 von einem Franziskaner gegründet, stieg die damals noch als San Miguel el Grande bekannte Siedlung auf dem Stammesgebiet der Guachichilen-Indios schnell zu einem bedeutenden Zwischenstopp am Camino Real de Tierra Adentro auf, der Mexiko-Stadt mit den Silberminenstädten im Norden des Landes verband. Zu Ehren von General Ignacio Allende, dem Helden des mexikanischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Spanier, wurde die kleine Kolonialstadt 1826 umbenannt. In der Folgezeit wuchs und gedieh sie weiter. Nicht zuletzt aufgrund der 1951 gegründeten Kunstakademie Instituto Allende, die viele Kulturschaffende anzog.
Ein magischer Ort
Heute ist die Stadt ein ausgezeichneter Ort, um sich niederzulassen – und das im wahrsten Wortsinn. Hat sie doch bereits einige Titel gesammelt. So erklärte die UNESCO San Miguel de Allende 2008 zum Welterbe – als herausragendes Beispiel für mexikanischen Barock und den Austausch zwischen spanischer und lateinamerikanischer Kultur. Schon zuvor hatte die Stadt zu den Pueblos Mágicos gehört, den „Magischen Orten“. 2017 zeichnete sie dann das New Yorker Reisemagazin Travel + Leisure als „beste Stadt der Welt“ aus. Rund 300.000 Befragte aus aller Welt hatten angegeben, dass sie San Miguel de Allende schätzen. Etwa für das angenehme Wetter, das künstlerische, gastronomische und kulturelle Angebot, aber auch seine Historie.
Langsame Architektur
Das mögen wohl auch die Gründe gewesen sein, die das junge Ehepaar Cem Turgu und Adriana Alegria bewegten, die Architekten von HW Studio mit der Planung ihres privaten Wohnhauses in eben dieser Gegend zu beauftragen. Sicher ist jedenfalls, dass diese Faktoren dazu beitrugen, dass das Enso House II heute ist, was es ist: ein Paradebeispiel für langsame Architektur. Sie stellt Nachhaltigkeit in den Vordergrund, entwirft Gebäude im Einklang mit der Umwelt, verwendet langlebige, lokale Materialien und setzt auf handwerkliches Können.
Starke konstruktive Identität
Das Enso House II macht diese Grundsätze sichtbar. Es ist ein Steinbau, dessen ruhige Form von der regionalen Bauweise inspiriert ist und der mit der natürlichen, halbtrockenen Umgebung verschmilzt. Dass man sich für das ikonische Gestein der Region als Hauptbaumaterial entschied, lag aber nicht nur daran, dass es in der Nähe leicht verfügbar war, es erfahrene Handwerker gab und die thermischen Masse der dicken Mauern den Energiebedarf des Hauses reduzierte. Nach umfangreichen historischen Recherchen zeigte sich Guanajuato den Planern auch als eine Region, in der die Verwendung von Stein „in jeder Form des kulturellen Ausdrucks tief verwurzelt ist“. Angefangen bei den alten Häusern über die Aquädukte bis hin zu den traditionellen Küchengeräten wie Molcajete und Tejolote (Mörser und Stößel aus Vulkangestein): „Es gibt nur wenige Orte in Mexiko, die eine so starke konstruktive Identität haben.“ Und diese Identität sollte sich auch in der Architektur des Enso-Projekts widerspiegeln.
Symbol der Stärke
Nach langen, durch die Pandemie erschwerten Bauarbeiten und einer Investition von 300.000 US-Dollar war das Enso House II 2023 bezugsfertig. Angesichts seines kreuzförmigen Grundrisses scheint der Name für den 200-Quadramter-Komplex zunächst nicht ganz passend. Schließlich ist das Ensō-Symbol aus der japanischen Kalligraphie ein Kreis. Die Bauherren wählten ihn jedoch aufgrund seiner Bedeutung und engen Verbindung zum Zen-Buddhismus. So steht Enso für Erleuchtung, Stärke, Eleganz, das Universum und die Leere. Und unter diesem Blickwinkel betrachtet könnte das Haus kaum passender heißen.
Die Passage durch die Residenz gleicht aufgrund der Verteilung der Räume nämlich einer ständigen Pilgerreise. Deren Ziel ist es, auf die harmonische Verbindung zwischen Mensch und Natur aufmerksam zu machen. In den archaisch angelegten unverputzten Durchgängen kommen Bewohner wie Besucher „in Kontakt mit der Erde, der Luft und den Bergen. Als wäre das Haus ein altes Kloster, das die Landschaft einrahmt und gleichzeitig ein natürlicher Teil von ihr ist“, so die Architekten. „Der Raum ist durch ein Kreuz aus steinernen Gassen in vier Quadranten unterteilt, die die Wege definieren und einen Quadranten vom anderen trennen.“
Berufene Räume
Jedem Quadranten wurde dabei eine „Berufung“ zugewiesen. Der erste heißt Bewohner und Gäste in einem Garten willkommen. Der zweite fungiert als Parkplatz. Die während der Bauphase sorgfältig gepflegten Bäume spenden Schatten und sorgen dafür, dass sich die Fahrzeuge auch im Sommer nicht zu stark aufheizen. Für Privatsphäre sorgt eine lange, die horizontale Präsenz des Berges im Hintergrund betonende Steinmauer. Sie schützt den Eingangsbereich und vor allem den dritten Quadranten vor neugierigen Blicken. In ihm sind die Privatgemächer, wie etwa das Schlafzimmer, untergebracht.
Flirt mit der Silbermine
„Die öffentlichen Räume sind von den privaten durch ein Volumen getrennt, in dem sich Bäder, ein Ankleidezimmer sowie der offen gestaltete Wohn- und Essbereich befinden, was den offenen Grundriss aufbricht“, erklären die Planer. Von dort gelangt man auch in den vierten Gebäudeteil mit dem Büro des Ehepaars. Dessen markante vertikale Präsenz steht in scharfem Kontrast zur überwiegend horizontalen Anordnung der anderen Quadranten auf dem Grundstück. Doch auch das kommt nicht von ungefähr: Für das HW Studio soll das Bürogebäude „mit den ikonischen Volumen der Silbermine Santa Brígada in Mineral de Pozos flirten.“ Enso House II setzt also ober-, um nicht zu sagen überirdisch fort, was den Grund unter seinen Mauern und die Gegend, in der es steht, so wertvoll macht.
Frieden fördern
Das Konzept der Anlage erschließt sich optisch in seiner ganzen Größe und exakten Geometrie freilich nur mit etwas Abstand. Dann jedoch wird sichtbar, wofür HW Studio steht und stehen will: Architektur, die Stille und Schönheit, Funktionalität und Bedeutung in sich vereint. Fast meint man, auch sehen zu können, was darunter als Basis verborgen liegt. Fühlen kann man es auf jeden Fall. Nämlich, dass HW Studio 2018 auf dem Höhepunkt eines Gewaltausbruchs im Land gegründet wurde. Mit dem Ziel, Räume zu schaffen, die den bedrohten Frieden fördern.
Philosophie-Prinzipien
Dafür setzen die Planer nicht nur auf ihr architektonisches Know-how. Sie binden auch östliche und westliche Philosophie-Prinzipien in ihre Arbeit ein. So kommen bei der eingehenden Untersuchung des Kunden und des Bauortes etwa auch Meditationstechniken zum Einsatz. „Sie erleichtern die Gestaltung und helfen uns, in einer zunehmend lauten und gewalttätigen Welt ein Gefühl der Gelassenheit, Ruhe und Stille zu vermitteln und willkürliche und egoistische Antworten zu vermeiden“, ist Büro-Mitbegründer Rogelio Vallejo Bores überzeugt.
Im Falle des Enso House II ist das definitiv gelungen. Und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass das Projekt bei den AZ Awards 2023 mit dem Award of Merit ausgezeichnet wurde.
Text: Daniela Schuster Bilder: Cesar Bejar; HW Studio Arquitectos
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