Morgen, Kinder, wird’s Holz geben
Wir können alles. Außer Hochdeutsch“. Mit diesem Claim vermarktete sich Baden-Württemberg viele Jahre selbst. In den 1990ern von der Agentur Scholz & Friends entwickelt, wurde der Spruch zum mit Abstand bekanntesten und beliebtesten Bundesland-Slogan. Und insbesondere wenn man auf Tübingen blickte, kam man nicht umhin, ihn für mehr als nur gute Werbung zu halten. Denn die schwäbische Universitätsstadt sorgte immer wieder für Schlagzeilen der Bewunderung.
Der Tübinger Weg
So wurde zum Beispiel breit, und nicht nur national, berichtet, als Tübingens Einwohnerinnen und Einwohner mitten in der Corona-Pandemie schon wieder im Kaffeehaus saßen, während man andernorts noch im Lockdown erstarrt war. Ein eigenes Schelltestsystem hatte es möglich gemacht. Und auch als die City nicht länger bloß über die Energiewende redete, sondern eine Solardachpflicht einführte, war das Medienecho groß. Vom „Tübinger Weg“ war dann meist die Rede. Und gemeint waren damit – auch durchaus unkonventionelle – Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit.
Nicht immer ist der „Tübinger Weg“ freilich eine weithin sichtbare Autobahn. So manches Vorzeigeprojekt der Stadt bleibt vielmehr weitgehend unbemerkt. Wie etwa die Erweiterung des Kinderhauses Sophie Haug.
Der neue Bau nach den Plänen des lokalen Büros Dannien Roller Architekten + Partner ergänzt die bestehende Einrichtung um eine dreigruppige Kindertagesstätte. Mit ihr trägt die kommunale Verwaltung nicht nur dem wachsenden Bedarf an Betreuungsplätzen in der „Schwarmstadt“ Rechnung. Die Kita ist auch ein Musterbeispiel für nachhaltiges und doch kindgerechtes Bauen, das – ähnlich wie der Kakapo Creek Kindergarten auf Neuseelands Nordinsel – Schule machen sollte.
Holz-Hybrid für die Zukunft
Als Antwort auf die anspruchsvolle Topografie und den alten Baumbestand fügt sich die neue Sophie Haug Kindertagesstätte behutsam in die Bestandssituation ein: Der quaderförmige Baukörper ist teilweise in das Hanggelände eingebettet. Und mögen für den Holzhybrid-Bau auch anderswo grüne Riesen gefällt worden sein, so haben die Planer ihn doch so positioniert, dass zum Ausgleich die Bäume auf dem abschüssigen Grundstück weitgehend erhalten werden konnten.
Das Untergeschoss, das gen Osten hervortritt, ist als massiver Sockel in Stahlbeton ausgeführt, der eine Ständerkonstruktion trägt. Die Außenwände sind in Holzrahmenbauweise im Passivhausstandard ausgeführt. Für die tragenden Innenwände kam Brettsperrholz zum Einsatz. Der Bau schiebt sich zudem mit einem erdeingebundenen Hanggeschoss in das sorgsam modellierte Gelände ein. Und das Dach trägt zwar eine Photovoltaikanlage, wurde aber rundherum extensiv begrünt. Auf diese Weise integriert sich die Sophie Haug Kindertagesstätte trotz ihrer Größe – sie bringt es auf 860 Quadratmeter Bruttogeschossfläche – perfekt in die Nachbarschaft, das baumbestandene Grundstück und die Natur des nahen Waldes.
Architektonische Mimikry
Apropos Wald: „Als architektonische Mimikry passt sich das Gebäude an seine waldige Umgebung an“, so die Planer von Dannien Roller Architekten + Partner. Das schlichte, kompakte Gebäude ist von einer schwarz geflammten, karbonisierten Fassade aus nordischer Fichte umhüllt. Im Kontrast dazu sind bestimmte Bereiche blaugrün lasiert: etwa die Fensterzone im Obergeschoss oder die an der Südseite zurückgesetzten Fassadenbereichen der Veranda bzw. des Laubengangs. Und auch der in die Hülle eingelassene, verglaste Haupteingang an der Nordseite wurde durch die Lasur betont. Die leuchtenden Türkistöne tragen zur Rhythmisierung bei und wecken (nicht nur die kindliche) Neugier. Sie unterstreichen das Konzept eines „Waldhauses“, indem sie an Berg- und Waldseen denken lassen.
Durch die Drehung des Gebäudes wurde ein Vorplatz geschaffen, der als Übergang zum geschützten Gelände der Kindertagesstätte dient. Der Eingangsbereich im Erdgeschoss auf der geschlossenen Nordseite ist leicht schräg in die Fassade eingefügt. So entstanden zugleich eine Überdachung und eine Wegführung ins Gebäude. Die Südseite erhielt hingegen eine vorgesetzte Laubengangebene, die zum Spielen einlädt. Die dafür nötigen Stützen sind als markantes Gitter vor die bodentiefen Fenster gesetzt. Die Laubengänge verbinden gleichzeitig das Obergeschoss über zwei feuerverzinkte Treppen mit dem großzügigen Garten. Selbst bei geschlossenem Sonnenschutz gelangen die Kinder so aus den Gruppenräumen ins Freie.
Raus in die Natur
Das nördlich auf dem Grundstück gelegene Wäldchen wurde als solches erlebbar belassen. Die Planer machten es lediglich sicherer zugänglich – mit einer befestigten Wegeverbindung. Im restlichen Garten bieten sich auf natürlich gewachsenen „Plateaus“ genügend Spiel- und Aktionsflächen für kleine und große Outdoorabenteuer. Die Freifläche ist klar in Neben- und Hauptflächen gegliedert und ermöglicht den Kindern so eine einfache Orientierung. Über die südlich gelegene Außenspielfläche, die die ausgeprägte Hang-Topografie mit spielerischen Elementen wie Holzstegen überwindet, ist die neue Sophie Haug Kindertagesstätte zudem mit dem bestehenden Kinderhaus verbunden.
Verbunden ist das neue Haus aber vor allem mit der Natur – auch im Inneren. Großflächige Glaseinschnitte öffnen das Gebäude und lösen die Grenzen zwischen Innen und Außen auf – insbesondere im Untergeschoss, wo die sich in den Hang schiebenden Sichtbetonwände einen großen Bewegungsraum für die Kinder umfassen. Mit seiner Verglasung ermöglicht er Ausblicke durch das wie stilisiertes Wurzelwerk gestaltete Tragwerk der Laubengänge und holt den umgebenden Garten gleichsam ins Gebäude.
Natur, komm rein!
Das Thema Natur setzt sich im gesamten Inneren fort. So lässt das komplexe Kommunikationssystem von Materialien und Farben an eine sommerliche Waldlichtung denken. Aus dem dunkelbraun strukturierten, erdigen Kautschukboden „wachsen“ die Wände aus heller Fichte. Die Decken sind mit hellblauen Holzwolle-Leichtbauplatten (umgangssprachlich werden sie häufig auch als „Sauerkrautplatten“ bezeichnet) abgehängt, die den Himmel zumindest farblich in die Räume holen. Und der strahlendgelbe Anstrich der Eichenholztüren symbolisiert die Sonne und wilde Waldblüher.
Bei aller Naturnähe: Hochfunktional ist die Sophie Haug Kindertagesstätte selbstverständlich auch. Schon allein durch die durchdachte, übersichtliche Anordnung der Räume, die an das kindliche Bedürfnis nach klaren Strukturen angepasst sind. Das großzügige Foyer mit Durchblick in den Garten bildet das kommunikative Zentrum der Kita. Gleich links beim Eingang finden sich die Bereiche der Pädagoginnen und Pädagogen und die Verwaltung sowie eine Küche, die Toiletten, Garderoben und Technikräume. Ein Erschließungsblock aus Sichtbeton mit Aufzug und einer umlaufenden Treppe aus hellem Holz trennt in der Mitte des Gebäuderiegels die Funktionseinheiten ab. Abgeschirmt dahinter liegen im östlichen Teil die ruhigen Krippen-Räume für die Betreuung der unter Dreijährigen.
Klare Raumstruktur
Ein breiter Spielflur erschließt sowohl das Erd- als auch das Obergeschoss. Im Obergeschoss sind die beiden Gruppen der über Dreijährigen untergebracht. Sie dürfen sich in je einem großen und einem kleinen Spielzimmer austoben. Ein so genannter Differenzierungsraum bietet ihnen aber auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. „Mit der Zusammenschaltbarkeit der Gruppenräume ist auch für eine flexible Nutzung gegeben“, so die Planer von Dannien Roller Architekten + Partner. Ein Dachoberlicht im Flur wird im Sommer zur Nachtluftkühlung und Belüftung genutzt. Ansonsten gibt es eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung.
Bei allen Vorzügen der Sophie Haug Kindertagesstätte – eine kritische Frage stellen sich die Eltern doch, wenn sie darüber nachdenken, ob sie sich unter den über 40 Tübinger Betreuungseinrichtungen für dieses Haus entscheiden sollen: Wie sieht es im Holzbau mit dem Brandschutz aus? Eine ausführliche Antwort lieferten die Planer auf der Informationsplattform Baunetz Wissen: „Alle Bauteilqualitäten, die Sichtigkeiten der Materialien und die organisatorischen Maßnahmen wurden – wie für ungeregelte Sonderbauten notwendig – mit der Feuerwehr intensiv abgestimmt.“
Und der Brandschutz?
So sind zum Beispiel die Holzbauteile in den Obergeschossen statisch auf Abbrand feuerhemmend dimensioniert, die Holzgeschossdecken wurden mit Estrich versehen. Der Neubau verfügt zudem über eine Brandmeldeanlage mit akustischer Alarmierung. Und alle drei Geschosse haben als direkten Fluchtweg über die gesamte Fassadenlänge breite Terrassentüren ins Freie.
Alle Bauteilqualitäten, die Sichtigkeiten der Materialien und die organisatorischen Maßnahmen wurden – wie für ungeregelte Sonderbauten notwendig – mit der Feuerwehr intensiv abgestimmt.
Dannien Roller Architekten + Partner
Weit hatten es Kinder und Betreuungspersonal übrigens nicht, als sie den Neubau am Rosenauer Weg bezogen. Die Sophie Haug Kindertagesstätte liegt nur wenige Meter vom Bestand entfernt am Hang zwischen dem Stadtzentrum und den Kliniken und bietet idyllische Ausblicke über die Dächer von Tübingen. Im Neubau herrscht inzwischen buntes Treiben. „Die Kinder, aber auch wir Fachkräfte, genießen die neuen Räume, die durch die Schallisolierung eine Wohltat darstellen“, betonte Kinderhaus-Leiterin Petra El-Kassem nach dem Einzug gegenüber der Lokalzeitung „Schwäbisches Tagblatt“. Als besonders gelungen hob sie die großen und tiefen Sitzfenster hervor. „Hier verweilen die Kinder sehr gerne, um Bilderbücher anzuschauen. Oder aber um Kunstwerke zu gestalten.“
Inspirierendes Werkstatthaus
Anregend ist die Umgebung allemal: Komplexe Farben, Formen und Strukturen fördern die kindliche Freude an visuellen und haptischen Sinneswahrnehmungen und machen die Kita zu einem inspirierenden Werkstatthaus. Dynamik entsteht auch und vor allem durch das Zusammenspiel von traditionellem Holz und kühlem Stahl oder durch die Materialbrüche im Treppenhaus. Dort schaffen der graue Sichtbeton des Aufzugsschachtes, das helle Fichtenholz und der rohe Schwarzstahl eine besonders spannungsreiche Komposition.
„Insgesamt schafft die modern-ästhetische Formensprache, verbunden mit natürlichen Materialien und dominanten Farbkontrasten, einen fantasievollen Ort, der den kindlichen Wunsch nach einer narrativen Architektur erfüllt“, sagen die Planer. Einige Branchen-Jurys sahen das bereits ähnlich – zumal die Architekten auf eine nachhaltige Holzhybridbauweise setzten. Folglich wurde die Sophie Haug Kindertagesstätte etwa mit dem ersten Platz bei den Architizer A+Awards 2024 in der Kategorie „Kindergarten“ geehrt.
Wahrlich ausgezeichnete Architektur
Kürzlich wurde das Gebäude auch für den DAM Preis 2025 nominiert. Mit ihm zeichnet das Deutsche Architekturmuseum seit 2007 alljährlich herausragende Bauten aus. Alle Nominierungen eines Jahrgangs werden dann auch im „Architekturführer Deutschland“ präsentiert.
Die Kindertagesstätte Sophie Haug ist ein fantasievoller Ort, der den kindlichen Wunsch nach einer narrativen Architektur erfüllt.
Dannien Roller Architekten + Partner
Die Chancen stehen also gar nicht schlecht, dass die Sophie Haug Kindertagesstätte künftig doch noch in den Reigen der von der Presse bejubelten „Tübinger Weg“-Projekte aufgenommen wird. Und damit die breite Aufmerksamkeit erlangt, die sie verdient …
Text: Daniela Schuster Bilder: Dietmar Strauss; v2com newswire
Lesen Sie weiter im UBM Magazin, der Plattform für Immobilienwirtschaft, Stadtplanung und Design.
Kommentare