Gut gedeihen im Wohngewächshaus
Bis vor wenigen Jahren produzierte hier der amerikanische Konzern Kellog noch Cornflakes und andere Cerealien und revolutionierte damit seit den 1960er-Jahren die Frühstücksgewohnheiten der Europäer. Seit die Produktionsmaschinen still stehen, entsteht auf Bremens Überseeinsel ein neues urbanes Quartier für die Zukunft, wie die Stadtplaner verlauten. Das Areal zwischen Weserufer und Europahafen ist Teil des Transformationsvorhabens Überseestadt, das zu den größten Stadtentwicklungsgebieten Europas zählt.
Neues Stadtgebiet in der Industriebrache
Nach dem Masterplan von SMAQ und Man Made Land wachsen aus der Industriebrache ökologisch nachhaltige Quartiere, in denen ein kleinteiliges Neben- und Miteinander von Wohnen, Arbeit, Bildung und Freizeit möglich wird. In Stephanitor, dem ersten Viertel, das auf der Überseeinsel entsteht, haben die Bauarbeiten bereits begonnen. Das nachhaltige Energiekonzept für die Überseeinsel versorgt die künftigen Bewohner möglichst CO2-neutral mit Sonnenstrom, Windenergie und einem Kühlsystem, das das Wasser der Weser nutzt.
Die lebendige Mischung aus transformierten Industriegebäuden und sensibel eingepassten Neubauten sorgt für den einzigartigen Charakter des neuen Quartiers. In der ehemaligen Flakes-Fabrik entstehen loftartige Wohnungen, das Reislager wird zum Bürohaus mit Markthalle transformiert und die alten Silotürme werden zum Hotel umgenutzt.
Geförderte Wohnungen in Holzmodulbauweise
In zweiter Reihe zur Hafenkante entsteht ein „Wohngewächshaus“ nach den Plänen des Wiener Architekturbüros Delugan Meissl. Der Entwurf basiert auf einem Studienauftrag, den die Architekten für die Überseeinsel GmbH realisiert haben. Sie sollten ein Wohnkonzept erstellen, das den ambitionierten Anforderungen des Auftraggebers entspricht. „Günstig, energieeffizient und gleichzeitig ästhetisch bauen. Mit dem Wohngewächshaus von DMAA starten wir den Versuch, diese Parameter zusammenzubringen“, heißt es von Seiten des Immobilienentwicklers.
Günstig, energieeffizient und gleichzeitig ästhetisch bauen. Mit dem Wohngewächshaus von DMAA starten wir den Versuch, diese Parameter zusammenzubringen.
Auf einer Bruttogeschossfläche von 5.065 Quadratmetern entstehen hier geförderte Wohnungen für Familien. Der Komplex ist laut Entwurf in drei Teile gegliedert: einen Wohnblock, einen vorgelagerten Laubengang und ein Gewächshaus am Dach des Gebäudes. Eine spannende Typologie, die dafür sorgen soll, dass Menschen und Pflanzen gleichermaßen gut gedeihen und in einer Art symbiotischer Beziehung leben.
Dreigeteilter Baukörper
Den Kern der Anlage bildet der beheizte Wohnblock, der in Holzmodulbauweise entsteht. Die im Werk komplett vorgefertigten Elemente müssen auf der Baustelle nur noch montiert werden.
Die Erschließungssituation in einem vorgelagerten Laubengang bietet mehrere Vorteile. Zum einen sorgen die halböffentlichen Freiräume für soziale Interaktion, zum anderen bieten sie den Mietern die Möglichkeit, sich hier einen eigenen kleinen Garten anzulegen.
Das Gewächshaus auf dem Dach ist eine energetische Win-Win-Situation. Während das Glashaus von der Abwärme der Wohnungen profitiert, schafft die zweite Gebäudehülle einen Wärmepuffer für den Wohnkern.
Am Urban-Farming-Konzept des Gewächshauses können sich nicht nur Bewohner beteiligen, hier soll künftig auch Gemüse kommerziell angebaut werden. Farm-to-table lautet das Stichwort, das den direkten Weg beschreibt, auf dem das Gemüse vom lokalen Anbau auf den Tellern von Restaurants und privaten Küchen landet.
Mobilität neu gedacht
Neben einem ambitionierten Energiekonzept hat man auf der Überseeinsel auch die Mobilität einer kritischen Prüfung unterzogen. Das Ergebnis ist ein autofreies Areal, auf dem die Wege fossilfrei zurückgelegt werden, sprich mit eigener Körperkraft. „Klassische Auto-Straßen gibt es nicht. Geparkt wird in zentralen Quartiers- und Tiefgaragen. Spätestens ab dort geht es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem E-Shuttle weiter“, erklärt die Überseeinsel GmbH.
Klassische Auto-Straßen gibt es nicht. Geparkt wird in zentralen Quartiers- und Tiefgaragen. Spätestens ab dort geht es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem E-Shuttle weiter.
Damit es möglichst leicht wird, auf das Auto zu verzichten, gibt es bei allen Parkmöglichkeiten umfassende Infrastruktur – von Fahrrad- und Car-Sharing-Stationen bis hin zu Einkaufsmöglichkeiten und eine direkte Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz. Fußgänger- und Fahrradbrücken sollen die Überseeinsel künftig mit der Stadt verbinden. Einige der asphaltierten Straßen, die dem Verkehr gewidmet waren, will man im Zuge der Arealsentwicklung entsiegeln. Großzügige Grünflächen und Parkanlagen prägen das Freiraumangebot der Überseeinsel.
Die 15-Minuten-Stadt
Damit setzt man eine Idee um, die in der Stadtplanung gerade an Bedeutung gewinnt: die 15-Minuten-Stadt. Das Konzept geht auf den französisch-kolumbianischen Städteplaner Carlos Moreno zurück, der es erstmals 2016 formulierte. Es basiert auf autofreien Stadtbezirken, in denen sich alles, was man zum Leben braucht, in einer Viertelstunde erreichen lässt – ob Büro, Supermarkt, Kindergarten oder der Hausarzt.
Wie die Pandemie deutlich gezeigt hat, sind Städte heute nicht in der Lage, ihre Bewohner in Krisenzeiten mit den notwendigen Ressourcen zu versorgen. Durch die Dezentralisierung von Dienstleistungen sollen einzelne Stadtgebiete wieder autark werden und dörfliche Strukturen aufweisen. Das steigert nicht nur die Lebensqualität der Bewohner, sondern ist auch gut für das Klima. In der Folge gibt es weniger Luftverschmutzung, mehr Erholungsraum, und die Zersiedelung von Städten wird eingedämmt.
Text: Gertraud Gerst Visualisierungen: Delugan Meissl
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