Groß gedacht im Kleinformat
Die Schrebergärten in Wien haben eine lange Tradition. Die ersten Kleingärten verpachtete der Wiener Naturheilverein 1904, um Menschen gesundheitlich zu unterstützen, „die viel sitzende Beschäftigung haben“, also Arbeiter, Angestellte und Beamte. In der Hungersnot im Ersten Weltkrieg wurden die Heilgärten zu überlebenswichtigen Nutzgärten, die die Menschen mit Obst und Gemüse versorgten. Seit den 1990er-Jahren ist es in Wien möglich, auch seinen Hauptwohnsitz in einen Schrebergarten zu verlegen und die dazu passende Kleingartenparzelle käuflich zu erwerben. So entstanden in den letzten Jahrzehnten Eigenheime auf einer maximalen Baufläche von 35 Quadratmeter und mit einer erlaubten Bauhöhe von fünf Meter. Die Villa minimale vom Wiener Büro Clemens Kirsch Architektur ist so ein Schrebergartenhaus, das „eine optimierte Grundfläche mit maximaler Effizienz bietet“.
Als Sommerrefugium geplant dient das Haus in erster Linie „zum Entspannen, zum Geselligsein und zum Garteln“, wie es in der Projektbeschreibung heißt. Da so manche Parzellenbesitzer versuchen, das Maximum aus der Bebauungsfläche herauszuholen, sind die Kleingärten heute vermehrt von uniformen Kastenbauten besiedelt. Für die Villa minimale hingegen haben sich die Architekten Inspiration bei zwei recht unterschiedlichen Ikonen geholt.
Inspiriert von zwei Ikonen
"Villa Rotonda meets Kings Road House“ fassen sie diese Einflüsse in ihrem Entwurf zusammen. Ersteres ist eine Renaissance-Villa des Architekten Andrea Palladio, die zwischen 1567 und 1571 bei Vicenza gebaut wurde. Ihren Namen hat das als UNESCO-Weltkulturerbe gelistete Bauwerk von der zentralenRotundemit aufgesetzterKuppel. Der Grundriss basiert auf den geometrischen Grundformen Quadrat und Kreis und hat die Form einesGriechischen Kreuzes.
Das Kings Road House, das auch unter dem Namen Schindler House bekannt ist, steht in West Hollywood und wurde 1922 nach den Plänen des in Wien geborenen Architekten Rudolph Michael Schindler erbaut. Das Zweifamilienhaus besteht aus zwei miteinander verbundenen L-förmigen Wohnungen und weist einen offenen Grundriss auf, der Innen- und Außenraum miteinander verknüpft. Das Haus gilt heute als Wegbereiter der Moderne und eines der bedeutendsten Architekturwerke des 20. Jahrhunderts.
Die Villa im Kleinformat
Aus diesen beiden Referenzen zitiertet die Villa minimale ein paar Qualitäten. Die zentrale Rotunde aus der historischen Villa Rotonda findet sich hier in Schrebergartengröße wieder. Durch den runden Einschnitt in der Decke des Wohnraums bekommt der zentrale Essbereich einen Luftraum nach oben, der räumliche Großzügigkeit vermittelt und unerwartete Sichtbezüge schafft. Auch wenn dadurch tatsächliche Wohnfläche verloren ging, so gewinnt das Haus auf jeden Fall an gefühlter Größe.
Die Landschaft durchfließt das Gebäude und bietet Ausblicke in die Natur in alle vier Richtungen.
An eine quadratische Grundfläche schließen an den vier Seiten jeweils hölzerne Nischen an und bilden zusammen einen Grundriss in Form einer Windmühle. In seinem Drehkreuz befindet sich das zentrale Oculus, das im Obergeschoss eine Galerie ausbildet. Während die Nischen im Erdgeschoss großteils offen und in den Wohnraum integriert sind, bilden sie im Obergeschoss drei abgetrennte Schlafkojen mit „Camping-Feeling und Blick auf den Sternenhimmel“.
Das Außen nach innen geholt
Das Tragwerk der minimalen Villa besteht aus einer Holzfertigteilkonstruktion, die außen mit rot lasierten Holzlatten und innen mit furnierten Tischlerplatten aus Seekiefer verschalt ist. Aus dem Kupferdach ragen die Oberlichter schräg hervor und geben die Blickrichtung in den Sternenhimmel vor.
Ein kleines Architekturjuwel, das auf originelle Weise aus der formellen Monotonie vieler konventioneller Garten- und Wochenendhäuser hervorsticht.
Genauso wie im Schindler House bestimmt auch hier das Verhältnis zwischen Innen und Außen die Atmosphäre des Raumes. „Die Landschaft durchfließt das Gebäude und bietet Ausblicke in die Natur in alle vier Richtungen“, erklärt das Architekturbüro. Im Erdgeschoss sind es die rhythmisch angeordneten Fenster und Schiebetüren, die den engen Bezug zur Umgebung schaffen, im Obergeschoss sind es Rundfenster, wie sie auch die Modernisten gerne einsetzten.
Für die weithin herrschende Fertigteiltristesse der Schrebergartenarchitektur bildet die Villa minimale einen echten Zugewinn, wie auch die Jury des German Design Award 2024 urteilte: „Ein kleines Architekturjuwel, das auf originelle Weise aus der formellen Monotonie vieler konventioneller Garten- und Wochenendhäuser hervorsticht.“ Die Villa im Kleinformat wurde in der Kategorie „Excellent Architecture“ prämiert.
Text: Gertraud Gerst Fotos: Herta Hurnaus
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