Ein Tribut an Notre-Dame
Jahr für Jahr kommt in Paris rund um die Osterzeit die Erinnerung zurück. Und auch zahlreiche Menschen außerhalb der französischen Hauptstadt werden jenen Abend des 15. April 2019 nicht vergessen haben. Die Bilder des Großbrandes von Notre-Dame de Paris gingen damals um die Welt, nachdem aufgrund von Bauarbeiten auf dem Dachstuhl ein Feuer ausgebrochen war.
Die Löscharbeiten dauerten bis in die Morgenstunden des folgenden Tages. Die Zerstörung im Inneren von Notre-Dame waren enorm. Eine Wiedereröffnung der seit damals gesperrten gotischen Kathedrale ist erst für Dezember 2024 geplant – wobei seitens der Verantwortlichen betont wird, dass ihr Erscheinungsbild das gleiche sein soll wie vor 2019.
Neue Visionen
Dieses Vorhaben befürworten jedoch nicht alle. Nach der Brandkatastrophe sorgte beispielsweise der geplante Wiederaufbau des eingestürzten großen Dachreiters für Debatten. So wurde angeführt, dieser wurde ohnehin erst im 19. Jahrhundert errichtet; nun gäbe es die Möglichkeit, das mittelalterliche Kirchengebäude wieder in den Originalzustand zu versetzen.
Andere wiederum brachten ihre Vision eines gänzlich neu gedachten Projekts in die Diskussion. Einer davon: Vincent Callebaut. Der Star-Architekt entwarf Notre-Dame nach der Brandkatastrophe als "ein Symbol für eine widerstandsfähige und ökologische Zukunft." Sein Entwurf sollte "der Stadt Paris eine Reihe von Lösungen bieten, die von der Bionik inspiriert sind – welche hier als eine gemeinsame Ethik für eine gerechtere symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Natur definiert wird."
Wiedergeburt
Callebaut nannte seine Vision Palingenesis – nach dem griechischen Wort παλιγγενεσία für "Wiedergeburt". Das Ziel dieses Tributs an Notre-Dame, so der gebürtige Belgier, sei „ein pflanzliches Transplantat im steinernen Kirchenschiff, mit dem Dach und Turm in Einklang gebracht werden.“
Die vier Dachgiebel rund um den neuen Turm respektieren mit ihrer Höhe von zehn Metern die ursprüngliche Architektur, erklärte Callebaut. "Wenn wir uns dem Kreuz des Querschiffs nähern, dehnen sich die Dächer allmählich zu einer vertikalen Turmspitze aus. Die vier Dachlinien streben harmonisch dem Himmel entgegen, wodurch eine parametrische, leichte Geometrie entsteht."
Bionische Transparenz
Die Konstruktion besteht aus Eichen-Brettsperrholz, vorgespannt mit CFK-Lamellen. Vincent Callebaut: "Minimale Materialmenge gewährleistet einen geringen CO2-Fußabdruck, gleichzeitig bietet sie der Kathedrale die größtmögliche Transparenz." Der Eichenholzrahmen ist mit Kristallglas bestückt, das in facettierte, rautenförmige Elemente unterteilt ist. Diese Kristalle sind mit einer organischen Aktivschicht aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff versehen, die Licht absorbiert sowie in Energie umwandelt. Diese kann direkt im gesamten Dom genutzt werden.
Öffnungen in den Glaselementen sorgen für einen Luftstrom in Richtung der Turmspitze, wodurch ein natürliches, bionisches Belüftungssystem entsteht, da es jenem in einem Termitenhügel nachempfunden ist. Darüber hinaus fungiert der Bereich als thermische Pufferzone, in der sich im Winter warme Luft ansammelt, um so die Kathedrale besser vor Kälte zu isolieren. Im Sommer wiederum wird der Raum mittels zahlreicher Pflanzen gekühlt und damit zusätzlich mit Sauerstoff versorgt.
Öko-Garten für Bedürftige
Das Herzstück von Palingenesis ist nämlich ein Garten, der nicht nur als Rückzugsort und zur Erholung dienen soll. Vielmehr soll er zum Obst- und Gemüseanbau genutzt, um jährlich bis zu 21 Tonnen an Nahrungsmitteln hervorzubringen: "Freiwillige und Wohltätigkeitsorganisationen kümmern sich um den Garten, um den am stärksten benachteiligten und obdachlosen Parisern zu helfen", erzählt der Architekt von seiner Vision. So könnten wöchentlich auf dem Vorplatz von Notre-Dame Obst und Gemüse an Bedürftige verteilt werden.
Neben dem Garten entwarf Vincent Callebaut auch Aquaponikbecken, die für natürliche Nährstoffe der Pflanzen sorgen. "Die Idee ist, dieses neue architektonische 'Transplantat' zu nutzen, um Notre-Dame in ein Gebäude zu verwandeln, das mehr Energie produziert, als es verbraucht", erklärt der Designer. "So wäre die Kathedrale ein beispielhaftes Öko-Engineering-Bauwerk und die Kirche ein echter Pionier in Sachen Umweltverträglichkeit."
Leichentuch & Wiedergeburt
Doch auch die religiöse Komponente käme laut Callebaut in Palingenesis nicht zu kurz. "Die neue Architektur des Turms erinnert an ein angehobenes Leichentuch und damit an die Wiedergeburt und die Auferstehung Christi. Und unter dem Leichentuch entstehen Leben und Erneuerung. Notre-Dame verzaubert die Welt erneut und verstärkt gleichzeitig ihre universelle Friedensbotschaft und ihr spirituelles Streben."
Und wer weiß: Vielleicht wird Vincent Callebauts bionischer Tribut an Notre-Dame ja doch irgendwann einmal Wirklichkeit. Auch wenn man hoffen darf, dass es dafür keinen weiteren Großbrand braucht.
Text: Michi Reichelt Bilder: Vincent Callebaut Architectures, Wikimedia
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