Ein Pavillon für alle Fälle
Er ist 45 Kilometer lang, elf Kilometer breit und an seiner tiefsten Stelle muss man 350 Meter abtauchen, um den Grund zu erreichen. Kurz gesagt: Der Rupanco See im chilenischen Patagonien ist echt verdammt groß, tief – und mit 18 Grad Höchsttemperatur im Sommer auch verdammt kalt.
Eldorado am Rupanco See
Gleichzeitig aber sind sein glasklares Wasser und die naturbelassenen Ufer ein wahres Eldorado für Tiere und Planzen. Kormorane sind allgegenwärtig, Lachse und Forellen tummeln sich im Wasser. Und zwischen vereinzelten Fliegenfischern finden sich noch vereinzelter kleine Häuschen, die sich devot in die imposante Landschaft ducken.
Nicht so jenes Haus, von dem hier die Rede ist. Am Ostufer des prachtvollen Sees durften die beiden Architekten Diego Aguilo und Rodrigo Pedraza ein Familiendomizil entwickeln, das nicht nur im Vergleich zu den dortigen Bauten ungewöhnlich ist. Ihr „Pavillon“, wie sie ihr Objekt schlicht bezeichnen, erfährt internationale Aufmerksamkeit. Und das nicht bloß aufgrund seines ungewöhnlichen Erscheinungsbildes: Von manchem Blickwinkel wirkt das Bauwerk wie ein gigantischer Kormoran, der über den See blickt.
Purer Zufall. Denn orientiert haben sich die beiden Gründer des Studios Aguilo+Pedraza in Wahrheit an weit weniger platten Ableitungen. Sehr wohl aber an der Natur – an den hier vorherrschenden starken Regenfällen und heftigen Winden nämlich! Diese beiden Gewalten bildeten in der Konzeption den ersten von zwei Schlüsselfaktoren.
Flugzeug-Anleihen
Und so wurde das Gebäude als durchgehender Rumpf aus Cortenstahl, der die verschiedenen Räume vor dem wechselhaften, extremen Klima des Rupanco Sees schützen soll, geplant. Anleihen nahmen die beiden Herren übrigens an den Formen von Flugzeugrümpfen, die ebenso starkem Luftdruck und niederprasselnden Wassertropfen standhalten müssen.
Das gelang den Architekten, indem sie eine Art überdimensionalen Erker schufen, der als erstes Stockwerk dient und den eisigen Südwind, der im Sommer weht, blockiert. Wenn man so will, bildet eben dieser Part des Hauses einen Richtung See gereckten Kormorankopf.
Riesiger Vogel über dem Rupanco See
Als Vogelhals könnte man die zweite Wind-und-Wetter-Abwehrmaßnahme deuten: Eine nach Norden ausgerichtete Treppe, die als Puffer für die gewaltigen Winter-Winde und heftigen Eisregen gedacht ist. Schließlich überdeckt der Abschnitt, der die beiden Ebenen verbindet, den Innenhof. Dadurch wird dieser sozusagen vom restlichen Kormoran-Körper beschützt.
Den zweiten Schlüsselfaktor, der bei der Konzeption dieses Einfamilienhauses zu berücksichtigen war, beschreibt das Wallpaper Magazine in seiner Lobschrift über das Projekt besonders schön.
Zitat: „Zu Hause diktiert oft die Architektur die Zeit, die wir miteinander verbringen, während wir uns durch die verschiedenen Aktivitäten des Tages bewegen. Im chilenischen Patagonien am Ostufer des Rupanco-Sees bestand die Herausforderung für die Architekten darin, ein Haus zu schaffen, das es umgekehrt einer Familie ermöglicht, die meiste Zeit miteinander zu verbringen. Und das unabhängig davon, was sie vorhat.“
Der zweite Schlüsselfaktor
Ganz konkret sollten die Architekten eben nicht bloß einen Pavillon für alle Regenfälle, sondern schlichtweg auch für alle privaten „Fälle“ schaffen. Also einen wohnlichen Raum, der nicht so formell wie ein herkömmliches Haus ist. Vielmehr sollte er „eine flexible und entspannte Zone, in der Familienaktivitäten und Zeit miteinander geteilt werden können“ generieren.
Und diese „entspannte Flexibilität“ brachte das Architekten-Duo auf recht einfache aber sinnvolle Art und Weise in die Innenräume: Sie wiesen den einzelnen Bereiche nicht bloß eine, sondern gleich mehrere Aufgaben zu. So fungiert die erste Ebene als Wohn- und als Essbereich gleichzeitig. Das wird dadurch deutlich, dass die zentral positionierte Feuerstelle einerseits Grill ist aber auf der anderen Seite die Funktion eines wärmenden Kamins einnimmt.
Die zweite Etage hat eine ähnlich einfache, aber zielorientierte Anordnung: Hier wurde eine ruhige Umgebung etabliert, die als Gemeinschaftsraum und als Schlafzimmer gleichzeitig genutzt werden soll.
Nach dem gleichen Denkmuster haben die Architekten übrigens auch das offensichtliche Thema der „unberührten Natur“ in das Bauwerk verwoben: Während das obere Stockwerk den Blick auf die gewaltigen Sonnenuntergänge und -aufgänge über der epischen Landschaft freigibt und die Wildnis sozusagen ins Innere holt, wurde im Erdgeschoss eine Außenterrasse in die Landschaft gehauen. So können die Bewohner im Schoße der Natur behütet essen und genießen.
Sehnsucht nach Seensucht
Und im Fall der Fälle, dass dieses Haus eine unerwartet auftretende Sehnsucht nicht befriedigen kann, soll diese an den unberührten Ufern des Sees bei einem ausgedehnten Spaziergang versiegen.
Und als Seensucht bald Geschichte sein.
Text: Johannes StühlingerFotos: Marcos Zegers
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