Ein Paradies für Foodies
Briefe zu verschicken, ist aus der Mode gekommen. Statt auf Postkarten finden Urlaubsgrüße via Smartphone ihren Weg zu den Daheimgebliebenen. Pakete liefern Amazon, FedEx und Co. Und Rechnungen? Kommen per E-Mail ins Haus. Kurz gesagt: Analoge Post hat an gesellschaftlicher Relevanz verloren. Daran konnte selbst die Briefwahl, bei der Millionen US-Bürger bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 ihre Stimme abgaben und damit Donalds Trumps Niederlage besiegelten, nichts mehr ändern.
Neues Leben für alte Postämter
Wenn der Postmann aber nicht mehr (so oft) klingelt, bedeutet dies auch, dass viele der imposanten Postgebäude aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts reif für eine Umnutzung sind. In Manhattan wird zum Beispiel an der Umwandlung von New York Citys wichtigstem Postgebäude – einem prächtigen Säulenbau von McKim Mead & White an der Eighth Avenue – in eine Bahnhofshalle für die viel geschmähte Penn Station gearbeitet. In Cambridge, Ontario, verwandelte sich ein ehemals baufälliges Amt aus dem Jahr 1885 in eine viel gelobte öffentliche Bibliothek.
Kulinarik-Tempel für Toronto
Ein weiteres beeindruckendes Beispiel für eine Neuerfindung hat jetzt Giannone Petricone Associates (GPA) vorgelegt: Das preisgekrönte kanadische Architektur- und Designbüro unter der Leitung von Ralph Giannone und Pina Petricone, zu dessen zahlreichen hochkarätigen Gastgewerbeprojekten auch der erste und einzige kanadische Außenposten von Eataly gehört, hat das historische Art-Déco-Postamt im Stadtzentrum von Toronto in einen Foodie-Tempel verwandelt. Auf drei Ebenen und 2.000 Quadratmetern finden Feinschmecker nun alles, was Herz und Gaumen begehren.
Von roh bis raffniert
Im Erdgeschoss gelangt der Besucher zunächst in einen offenen Markt mit Bäckerei und Metzgerei. Alles hier ist so köstlich und schlüssig in Szene gesetzt, wie es der Slogan „A theatre of food – from raw to refined“ verspricht. Mit jedem Schritt taucht man tiefer ein in die kulinarische Welt von Stock T.C. Von der Rohkost und den Viktualien führt der Weg zunächst zu erlesenen Zutaten und vorbei an raffiniert veredelten Delikatessen, die Lust aufs Kochen machen. Dann landet man bei liebevoll zubereiteten Gerichten zum Mitnehmen, deren Herstellung man selbstverständlich live verfolgen kann. Und schließlich gelangt man in jenen Bereich, wo man sich nur noch ums Genießen der liebevoll servierten Speisen kümmern muss.
Im Genusstheater
Dass eine solche Inszenierung auch eine entsprechende Bühne braucht, ist selbstverständlich. Und so setzt sich der Gegensatz zwischen roh und raffiniert auch im Designprogramm fort. Die hohen, freiliegenden Decken und freigelegten, originalen Bodenmosaike des weitgehend unberührten, denkmalgeschützten Postgebäudes aus den 1930er-Jahren bilden die Kulisse für den Markt und Imbissbereich. „Rohe Architektur gefüllt mit rohen und persönlich ausgewählten Zutaten und Lebensmitteln“, nennen das die Designer.
Roh bedeutet in ihrem Konzept-Kontext aber auch ursprünglich. In Anspielung auf die Geschichte des Gebäudes als Postamt erinnert das schalldämpfende Deckengerüst an Ordner in einem Aktenschrank, während die Büttenränder des Terrazzofliesenbodens Assoziationen an die gezackten Kanten von Briefmarken wecken.
Proszenium reloaded
Um das Kalksteingemäuer nicht zu beschädigen, verkleidete das Team die Wände zudem mit einer zweiten Haut, an der Regale, Beleuchtung und schalldämpfende Texturen aufgehängt sind. Zu letzteren gehören auch die breite Filzbändern, die die härteren Kanten über den Theken der Metzgerei und der Bäckerei verkleiden. Sie sind das erste von mehreren übergreifenden Proszenien, die sich auf allen drei Etagen dieses gastronomischen Schauspielhauses wiederfinden. Im Bistro im zweiten Stock besteht das Proszenium jedoch aus Glasmosaik, jenes im Veranstaltungsraum im obersten Stockwerk ist aus Gips.
Hoch in den Bistro-Himmel
In die oberen Etagen gelangt man vom Marktbereich über eine breite Treppe, die schon optisch darauf vorbereitet, dass dort die „raffinierteren“ Aspekte des Designs warten. Im Bistro säumen Sitzbänke mit gerippten, gepolsterten Rückenlehnen den Raum, während eine monumentale Bar mit einem gestuften Marmorsockel die Mitte bildet. Von der Decke hängen elegante, geometrische Pendelleuchten aus Holz und Glas, die von der GPA individuell für das Gebäude entworfen wurden.
Rauf auf die Dachterrasse
So stylisch ist es hier und so gut das Essen, das man gern vergisst, dass es noch eine dritte Etage gibt. Sie ist reserviert für kulinarische Veranstaltungen aller Art und bietet Platz für bis zu 100 Gäste. Der flexible, von Glaswänden umgebene „Gartenraum“ mit runder Bar und Weinkeller ist von einer begrünten Terrasse umgeben, die entlang des alten Gesimses verläuft. Von hier aus überblickt man nicht nur das Dach, sondern auch den Montgomery Square. Im Rahmen der Sanierung des Geländes wurde der Platz von Janet Rosenberg & Studio umgestaltet und zu einem Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft. Gern sitzt man hier in der Sonne und genießt eine kleine Schlemmerei, die man sich mal eben schnell bei Stock T.C geholt hat.
Nomen est omen
Doch warum heißt der Gourmethimmel eigentlich „Stock T.C“? Für Native Speaker und kulinarisch Bewanderte spricht der Name für sich. Allen übrigen sei erklärt: Der Titel für das moderne Emporium wurde aufgrund seiner zahlreichen Assoziationen zu Lebensmitteln und Gastfreundschaft gewählt. So spielt „Stock“ auf das lukullische Angebot und seine Präsentation an. Bedeutet Stock doch unter anderem Vorratslager, aber auch Boullion oder Herkunft. T.C wiederum steht für die Initialen zweier langjähriger Kunden von GPA – die Gastro- und Lebensmittelgruppe Terroni/Sud Forno und die Metzgereikette Cumbrae’s –, die sich für die Umsetzung des Kulinarikkonzepts am Montgomery Square zusammentaten.
Adel verpflichtet
Der Name des Platzes, an dem der Foodie-Tempel steht, geht übrigens und passenderweise auf einen früheren, legendären Tavernenbesitzer zurück. Historisch einzigartig macht den Ort jedoch ein anderer Mann und niemand geringerer als Edward VIII. Als das Postamt 1936 eröffnet wurde, wurde es – als eines von wenigen Gebäuden in der Welt – noch schnell nach ihm benannt und mit seinen Insignien versehen, bevor er auf den Thron verzichtete, um die bürgerliche Wallis Simpson zu heiraten. Dieses ungewöhnliche historische Detail in Verbindung mit seiner Art-déco-Pracht veranlasste viele Bürger von Toronto, sich für den Erhalt des Gebäudes einzusetzen, als das Gelände für eine Neubebauung vorgesehen war.
Als neuer Nutzer wird das Stock T.C der Historie des Gebäudes und seinem Platz in der Community mehr als gerecht, indem es ihm mit Stil und Integrität zu neuem Glanz und einer Zukunft verhilft. Denn mögen auch Briefe aus der Mode gekommen sein: Gutes Essen, Genuss und Gemeinschaft lassen sich zum Glück nicht digitalisieren.
Text: Daniela Schuster Bilder: Doublespace / Stephanie Palmer, v2com-newswire.com
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