Die Aufhebung von Raum und Zeit
Dichte Bambuswälder, dunkle Teiche, abgerundete Reisterrassen und dazwischen kleine Siedlungen, die über Wege und schmale Straßen verbunden sind. Inmitten dieser Kulturlandschaft in der südwestchinesischen Provinz Sichuan liegt das Hostel Shanshui Firewood Garden, am Rande des kleinen Ortes Anshi. Typisch für die Wohnhäuser dieser waldreichen Gegend ist – ähnlich wie im Alpenraum – das Brennholz, das an den Außenwänden bis unter die Dachüberstände gestapelt ist. Ausgehend von dieser Referenz haben die Architekten von Mix Architecture lichte Screens aus aufgehängten Holzscheiten geschaffen. „Holz-Skelett-Wände“ nennen sie diese Raumteiler, die mehr Installation als funktionale Wand sind und dennoch Räume von eigenständigem Charakter schaffen.
Die Überlappung und Staffelung der Materialien bringt wie eine Sonnenuhr eine Spur der Zeit in den architektonischen Raum.
Anhand der Schatten, die das aufgefächerte Brennholz mit dem Lauf der Sonne schlägt, lässt sich die Tageszeit ablesen. Das Verstreichen der Zeit geht mit der Formation von Licht und Schatten einher, die langsam den Raum durchmisst und über Holz, Stein, Glas und Wasser fließt. „Die Überlappung und Staffelung der Materialien bringt wie eine Sonnenuhr eine Spur der Zeit in den architektonischen Raum“, erklären die Architekten in ihrer Projektbeschreibung. „Örtlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit werden durch den einzigartigen Gebrauch der Materialien überbrückt und im architektonischen Raum ausgebreitet.“
Der Innenhof als Dreh- und Angelpunkt
Der Beherbergungsbetrieb, der für den internationalen AZ Award 2024 nominiert ist, wurde von der kommunalen Regierung in Auftrag gegeben. Der Bau des Hostels solle dazu beitragen, den ländlichen Raum wiederzubeleben. „Der Projektstandort befindet sich in Sichuan. Um das Gebäude möglichst gut in die ländliche Umgebung zu integrieren, hielten wir es für eine gute Idee, uns zu Beginn des Entwurfsprozesses mit den traditionellen Häusern der Gegend auseinanderzusetzen.“
Diese bestünden meist aus Streifenhäusern und offenen Flächen davor. So kamen die Architekten zu ihrem Grundriss, der vier Längsbauten kreuzweise miteinander verbindet und in einer Rotation mittig zusammenfinden lässt. Ein räumliches Layout, das sowohl Erinnerungen an Vertrautes als auch ein Gefühl der Fremdheit wecken soll.
Die drei Materialien sind zu einander wie Fischschuppen oder fliegende Federn, sehr ähnlich aber doch individuell verschieden.
„Der bogenförmige Innenhof gleicht dem Drehpunkt eines Windmühlenkreuzes“, und ist demnach ein Ort der Ruhe. Hier befindet sich ein Teich, der als kontemplativer Ort Rückzug inmitten der kommunikativen Räume wie Teehaus, Restaurant und Bibliothek verspricht. Der zentrale Innenhof ist ebenso eine Referenz an die lokale Baukultur wie die unterschiedlichen Materialien.
Brennholz, Sandstein, Schiefer
Neben dem Brennholz ist der Sandstein ein weiteres Material, das regional eine große Bedeutung hat. Der aus den Bergen von Sichuan stammende rote Sandstein wird traditionellerweise als Baustoff, für Skulpturen und Haushaltsgegenstände verwendet. Im Shanshui Firewood Garden bestehen die raumgebenden Wände aus Sandsteinziegeln mit runden Außenkanten, was im fertigen Mauerwerk eine besondere Tektonik erzeugt. Die verwendeten Materialien, darunter auch die schiefergrauen Dachziegel, sind in ihrer Proportion auf die Holzscheite abgestimmt. Das Brennholz bildet gewissermaßen die kalibrierende Einheit der Baustoffe.
„Die drei Materialien sind zu einander wie Fischschuppen oder fliegende Federn, sehr ähnlich aber doch individuell verschieden“, so die Architekten aus der ostchinesischen Stadt Nanjing. „Sie sind aus der Landschaft entnommen, wurden in die Landschaft eingearbeitet, und sind so wieder ein Teil der Landschaft geworden.“
Während in der westlichen Architektur üblicherweise das Gebäude und das Interior-Konzept getrennt voneinander betrachtet und umgesetzt werden, lässt dieses Projekt die Grenzen verschwimmen – zwischen innen und außen, zwischen raumgebend und raumnehmend, zwischen fest und bewegt. Fast scheint es, als wäre der Raum, wie man ihn kennt, aufgehoben. Und mit ihm die Zeit.
Text: Gertraud Gerst Fotos: Arch-Exist
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