Das Prinzip neu denken
Kyudo ist die japanische Kunst des Bogenschießens, die seit dem 16. Jahrhundert ausgeübt wird. Sie unterscheidet sich in einigen Aspekten von der in westlichen Ländern praktizierten Sportart. Neben dem asymmetrisch geformten Yumi (Bogen) übt man je nach Kyudo-Stil eine Reihe an auffallend langsamen Bewegungsabläufen in traditioneller Kleidung. So wie bei anderen zeremoniellen Tätigkeiten in Japan, gibt es auch hier einen meditativen Aspekt und ein großes Augenmerk auf die Handwerkskunst des Bambusbogens und der Pfeile. Ein Anspruch, der sich auch im Tragwerk einer neuen Kyudo-Halle der Kogakuin Universität im Westen von Tokio widerspiegelt.
Auch für die westliche Sportart des Boxens ließ man eine neue Halle bauen und engagierte für beide Gebäude das Architektenduo Katsuya Fukushima und Hiroko Tominaga von FT Architects. An japanischen Schulen und Universitäten ist es durchaus üblich, dass es unterschiedliche Sportclubs gibt, wo nach dem Unterricht trainiert wird. Die Vorgabe für die Architekten lautete: kostengünstige Strukturen aus lokalem Holz, die den Studenten einladende und inspirierende Räume bieten.
Innovative Lösung gefragt
Beide Sporthallen sollten durchgängig stützenfrei sein und das exakte Maß von 7,2 mal 10,8 Meter aufweisen. Der Hintergrund: Diese Größe entspricht dem Gebetsraum eines traditionellen japanischen Tempels. Um diese Spannweite ohne Stützen zu erreichen und dabei eine möglichst kostengünstige Holzkonstruktion zu verwenden, mussten die Architekten eine innovative Lösung finden. „Wir begannen das Projekt damit, eine Reihe von Konstruktionsarten zu ermitteln, die für die jeweilige Sportart geeignet wären“, erklären die Architekten.
Durch die Zusammenarbeit mit Holzbauexperten, Forschern, Herstellern und Zulieferern kamen wir auf Holzbausysteme, die normalerweise nicht mit der konstruktiven oder architektonischen Nutzung in Verbindung gebracht werden.
„Durch die Zusammenarbeit mit Holzbauexperten, Forschern, Herstellern und Zulieferern kamen wir auf Holzbausysteme, die normalerweise nicht mit der konstruktiven oder architektonischen Nutzung in Verbindung gebracht werden.“ Für die Konstruktion der Bogenschießhalle entschieden sich die Architekten für kleinere Teile aus Zypressenholz, die sonst im Möbelbau zur Anwendung kommen. Massivere Holzteile, die Insektenschäden aufwiesen und für den Verkauf nicht mehr geeignet waren, wählten sie für den Boxclub.
Ein dreidimensionales Stabwerk
Dieses Ausgangsmaterial setzten sie mit einfachen Metallverbindungen auf traditionelle japanische Weise zusammen – nur mit waagrechten und senkrechten Bauelementen. „Diese einfache Konstruktionsweise aus vertikalen und horizonalen Elementen ist Teil der japanischen Baukultur und wurde seit dem Aufkommen der Moderne in Japan etwas vernachlässigt“, ergänzen die Architekten in ihrer Projektbeschreibung.
Diese Konstruktionsweise aus vertikalen und horizontalen Elementen ist Teil der japanischen Baukultur und wurde seit dem Aufkommen der Moderne in Japan etwas vernachlässigt.
So entstand für die Kyudo-Halle ein filigranes, dreidimensionales Stabwerk aus regionalem Zypressenholz. Durch das enge räumliche Raster des Tragwerks fallen die einzelnen Latten sehr schlank aus. Statt aus massiven Balken bestehen die Dachsparren aus verbraubten Brettern, was materialsparend ist und zum restlichen Konstruktionsdesign passt. An einer Seite lässt sich die Halle über Schiebeelemente aus Polycarbonat zu einer Art Innenhof hin öffnen. An einem Nebengebäude sind in einer Distanz von 28 Metern die Zielscheiben angebracht, sodass die Flugbahn der Pfeile im Freien liegt.
Schattenboxen bei Nacht
Die beiden Hallen stehen auf dem Park des Universitätsgeländes und sind nach außen hin sehr unscheinbar. Der Boxclub ist an den Längsseiten mit grau lackierten Holzplatten verkleidet. Die Stirnseiten bestehen aus Polycarbonatplatten, die untertags viel Licht in die Halle bringen und abends den Passanten eine Art Schatten-Boxkampf bieten. Durch die Innenbeleuchtung zeichnen sich die Boxer im Ring schemenhaft nach außen ab.
Im Gegensatz zur Kyudo-Halle bekam der Boxclub ein abgestuftes, etwas wuchtigeres Tragwerk verpasst, das zur Sportart passt und dem Raum ein kraftvolles und robustes Erscheinungsbild gibt. Die Konstruktion besteht aus 12 Zentimeter starken Kanthölzern, die im rechten Winkel aufeinander gestapelt sind und auf Pfeilern an der Längsseite des Gebäudes aufliegen. Diese Pfeiler dienen zugleich als Einspannung für die Außenwände.
Das Prinzip auseinander nehmen
Die beiden Beispiele zeigen, dass sich kostengünstiges Bauen und ein achtsamer Umgang mit Ressourcen nicht widersprechen müssen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Holz und die traditionellen Bauweisen in Japan haben die Architekten neue Konstruktionssysteme geschaffen, die es zuvor in dieser Form nicht gegeben hat.
Fukushima und Tominaga, die beide auch an Universitäten in Tokio unterrichten, finden ihren Zugang zur Architektur im Auseinandernehmen von bestehenden Systemen, wie sie erklären: „Verstehen heißt im Japanischen ‚das Prinzip auseinander nehmen‘. Wir zerlegen das ‚Prinzip der Welt‘ = Stereotyp sorgfältig, reparieren die kaputten Teile und setzen sie wieder zusammen. Durch diese Art des sorgsamen Denkens nähern wir uns einer neuen Architektur.“
Text: Gertraud Gerst Fotos: Shigeo Ogawa
Lesen Sie weiter im UBM Magazin, der Plattform für Immobilienwirtschaft, Stadtplanung und Design.
Kommentare