Britisch exzentrisch
Es mag ein Klischee sein … aber die Briten gelten gemeinhin als exzentrisch. Beispiele dafür findet man in der Politik – man denke an Ex-Premierminister Boris Johnson – oder wenn man sich britischen Klamauk und Humor vor Augen und Ohren führt: Die englische Komiker- und Schauspielergruppe Monty Python ist regelrecht legendär. Nicht zuletzt findet man britische Exzentrikerinnen auch in der Fashion-Welt, etwa die kürzlich verschiedene Vivienne Westwood.
Interessante Bildbände
Britische Schrägheit und Eigenwilligkeit zeigen sich in der Gestaltung von Gärten, in der Architektur und im Interior Design. Entsprechende Bildbände dazu sind sehr ergiebig. Zwei Beispiele seien hier erwähnt: „English Garden Eccentrics: Three Hundred Years of Extraordinary Groves, Burrowings, Mountains and Menageries”, ein Werk von Todd Longstaffe-Gowan, das im Juni 2022 von Yale University Press herausgegeben wurde – ISBN 1913107264. Und „English Eccentric: A celebration of imaginative, intriguing and truly stylish interiors”, von Ros Byam Shaw aus dem Jahre 2014 – herausgegeben von Ryland Peters & Small, ISBN 9781849755030.
The Red House: Übertriebene Merkmale
Englische Exzentrik wird auch beim Red House im Südwesten Englands von David Kohn Architects (DKA) zelebriert. Es ist ein Haus aus rotem Sichtbackstein mit übertriebenen Merkmalen wie übergroßen Traufen, gemustertem Mauerwerk und lebhaften grünen Details.
Sichtbackstein-Mauerwerk wurde in Europa vor allem zwischen 1650 und 1800 verbaut. Länder, wo dies stark vertreten war, sind die Niederlande, Frankreich und eben England – mit jeweils nationalen Eigenheiten. In London durften nach dem großen Brand im Jahre 1666 lange Zeit ohnehin nur noch Stein- und Backsteinbauten errichtet werden.
Auch preislich war die Backstein-Bauweise über eine sehr lange Phase unschlagbar – bis zu dem Zeitpunkt, wo man begann, in die Höhe zu bauen. Dafür eignete sich Backstein weniger gut.
Vorbild: Das einstige Red House
Das Red House im ländlichen Dorset lehnt sich gleich an eine weitere britische Tradition an, jener der Arts-and-Crafts-Bewegung. Sie war eine britische Strömung in der Kunst und insbesondere im Produktdesign in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1920. Der Name „Red House” ist insofern nicht ganz zufällig gewählt.
Als Schablone diente wohl eines der bekanntesten Arts-and-Crafts-Häuser Englands: Jenes Red House, das Architekt Philip Webb 1859 für den Grafikdesigner William Morris entwarf.
Studio DKA wollte dieses neue Gebäude mit der Geschichte der englischen Wohnarchitektur verbinden, die bis zu Hermann Muthesius‘ „Das Englische Haus” von 1904 und weitere zurückreicht. Der einflussreicher Theoretiker der modernen Architektur und des Produktdesigns hielt in seinem dreibändigen Werk die englische Baukunst fest.
Für die Zukunft gebaut
Für Muthesius war Webbs „Red House” von 1860 „das allererste Beispiel in der Geschichte des modernen Hauses”. Einerseits knüpfte es sowohl an die volkstümlichen Traditionen des Hausbaus an, andererseits trugen Grundriss und Nutzung sowie Einsatz von Material, Farbe und Masse moderne Züge.
Dass es in London auch „unterirdisch guten Wohnraum” gibt, zeigt nur umso eindrücklicher, dass die „Brits” tatsächlich einen Hang zu Exzentrik haben: Die luxuriösen sogenannten „Eisberghäuser" in der Londoner City gelten als „letzter Schrei”.
Auftraggeber des aktuellen Red House ist ein Ehepaar, das für sich und seine kleine Tochter das zweigeschossige Traumhaus von DKA realisieren ließ. Das Red House befindet sich auf dem Kamm einer Anhöhe in der sanft-hügeligen Umgebung des ländlichen Dorset, einer Grafschaft in Südwest-England.
Die Eigentümer verliebten sich in die idyllische Lage und den atemberaubenden Panoramablick, als sie das schmale Grundstück 2011 zum ersten Mal besichtigten. Zehn Jahre später war es so weit: Ihr Traumhaus nahm Gestalt an.
„Überzeichnetes” Haus
Das Red House bricht zwar mit dem Image eines gewöhnlichen britischen Hauses, ist aber von der Materialauswahl und Konstruktion her durchaus dafür gedacht, zu überdauern und gut zu altern, wird Architekt David Kohn in Medien zitiert. Er wollte zeigen, dass traditionelle Stile, wenn sie gut gestaltet sind, weit mehr als nur Nostalgie fortschreiben, sondern immer noch relevant sind.
Zudem sei seit langem klar, dass viele Aspekte der traditionellen Architektur, etwa geneigte Dächer in Klimazonen mit starken Regenfällen oder kleinere Fenster zur Verringerung der Sonneneinstrahlung in Zeiten des Klimawandels und der höheren Energiekosten nicht nur angemessen seien, sondern zunehmend an Bedeutung gewännen, so Kohn. Die Neubewertung traditioneller Formen sei also auch aus technischer und ökologischer Sicht absolut sinnvoll.
Jedes Element und jede Oberfläche von The Red House erinnert absichtlich an ein einfaches Landhaus. Aber irgendwie sieht es äußerlich trotzdem wie eine Kinderzeichnung aus – zumindest wie ein „überzeichnetes” Haus. Viele seiner Merkmale sind ungewöhnlich, etwa die Verwendung verschiedener Ziegelverbände, die der Fassade eine markante Geometrie verleihen.
Kontrastreiche Farben
Der Rot-Ton des Mauerwerks steht in starkem Kontrast zu dem Grün, in dem die Türen, Fensterrahmen und die Unterseite der Dachvordächer gehalten sind. Wulstige Erker, runde und halbrunde Fenster sowie Abflussrohre, die kühnen Linien folgen, lassen das Red House verspielt erscheinen. Die Lage der Erker wurde vor allem von den Ausblicken in die Landschaft bestimmt.
Im Inneren ist der offene Grundriss um sechs „Stauraum-Türme” herum organisiert, die den Grundriss über beide Etagen gliedern. Sie beherbergen Waschräume, reichlich Stauraum in Form von Schränken und Abstellräumen sowie einen Aufzug.
„Zukunftssichere” Lösungen für das Alter
Die bewohnbaren Räume sind dank der „Service-Türme” von Unordnung befreit und schaffen eine flexible Umgebung für die Bewohner sowie Platz für die umfangreiche Sammlung zeitgenössischer Kunst. Es ist daher kein Wunder, dass das Erdgeschoss luftig wirkt, obwohl die Wohnräume an sich eher klein gehalten sind.
Der pragmatische Wohnkomfort zeigt sich auch darin, dass an später gedacht wurde: Der Entwurf berücksichtigt jetzt schon weitgehende Barrierefreiheit und „zukunftssichere” Lösungen für das Alter wie abgerundete Ecken, Haltegriffe, und sogar einen Aufzug – ohne dem Stil des Hauses untreu zu werden. Die Durchgänge und Türen sind höher und breiter als üblich, so wird das Haus auch tauglich für Rollstuhlfahrer sein.
Enfilade von Räumen ohne Türen
Die Struktur der „Service-Türme” spiegelt sich auch im Außen: Die Ziegelsteine sind großteils, wie sonst üblich horizontal gelegt. Vertikal verlegte Ziegel kennzeichnen dagegen die Lage dieser funktionaleren Räume.
Türen gibt es im Erdgeschoß keine. In bestimmten Bereichen wird mehr Privatsphäre und Gemütlichkeit durch versetzte Wände geschaffen. Vom Eingang in der Mitte aus werden die Räume zu den Enden des Hauses hin immer privater. Der Flur geht in die Küche und das Esszimmer über. Die Wohnräume öffnen sich an beiden Enden des Hauses zur Landschaft hin.
Erker als vollwertige Räume
Im Erdgeschoss sind die Familienwohnräume vom Wohnzimmer mit dem Klavier sowie der Küche mit Oberflächen aus rostfreiem Stahl und der einladenden Esstisch-Nische dominiert. Der Essbereich ist in einen Erker eingelassen. Sämtliche Erker sind „belegt” und werden zu Räumen, sie begnügen sich nicht als Anbauten.
Über die große Treppe aus Eschenholz mit graphitgrauem, schachbrettartigem Belag folgt man der Kurve eines Erkers und gelangt in den ersten Stock. Die halbrunde Treppe endet mit einer Plattform, die den perfekten Punkt bietet, von wo aus man die dahinter liegenden Felder betrachten kann. Auf dieser Etage befinden sich vier Schlafzimmer mit komplett gefliesten Bädern und ein Arbeitszimmer.
Das Innere insgesamt ist mit ruhiger und konsequenter Sachlichkeit gestaltet: weiß gestrichene Blockmauerwerkswände und Holzblockböden. Dies macht die Vielfalt der Formen und Räume insgesamt wieder kohärent.
Angepasst an den Klimawandel
Weitere charakteristische Details im Inneren des Red House: Ein eckiger, verglaster Eingangsbereich und eine geschwungene blaue Garderobe.
Im Schieferdach können Fledermäuse ein Zuhause finden, weitere Nistplätze wurden in das Mauerwerk, die Dachrinne und die Dacheindeckung integriert.
The Red House ist auch deshalb zukunftsorientiert, weil zahlreiche Aspekte nachhaltigen Bauens Eingang in die Überlegungen des Architekturbüros fanden: Das in exponierter Lage gelegene Haus hat eine 1200 Millimeter tiefe Traufe, so dass die Fassaden vor Witterungseinflüssen geschützt sind und die Überhitzung in den Sommermonaten minimiert wird.
„Im Inneren wurde das Betonblockmauerwerk freigelegt, um unnötige Verputzarbeiten zu vermeiden und die thermische Stabilität der Innenräume zu maximieren”, führt Jennifer Dyne, Projektarchitektin bei David Kohn Architects, aus.
Einsatz lokaler Materialien
Die Fenster wurden in Derbyshire, die Blöcke in Leicestershire und die Ziegel in West Sussex hergestellt. In den Gärten wurden Steinmauern aus Dorset Durlston-Stein errichtet, der in den Purbeck Hills abgebaut wurde. Auch die Baumeister, die die Tischlerei-Elemente fertigten, kamen aus der Region.
Der gesamte Erdaushub wurde vor Ort belassen. Ein Landschaftsgärtner nutzte diesen, um im nördlichen Garten einen spiralförmigen, erklimmbaren Hügel zu errichten. Die ursprünglich tiefen Betonfundamente wurden zu Stahlpfählen umgestaltet. Für die Lehmziegelwände wurde traditioneller Kalkmörtel verwendet, um die Anzahl der Bewegungsfugen zu minimieren.
RIBA House of the Year 2022
Das moderne, neue Familienhaus The Red House wurde zum RIBA House of the Year 2022 ernannt. RIBA ist die Abkürzung für Royal Institute of British Architects.
Das Red House war eines von 20 Häusern, die um die Auszeichnung RIBA House of the Year konkurrierten. Die Jury habe sich entschieden, eine „Architektur zu unterstützen, die intim, verspielt und farbenfroh ist und sich sowohl mit ihrem Kontext als auch mit ihrer Geschichte auseinandersetzt”, wie es heißt.
Jährlicher Award
Die 2013 ins Leben gerufene Auszeichnung RIBA House of the Year Award wird jährlich vom Royal Institute of British Architects (RIBA) für das beste von einem Architekten im Vereinigten Königreich entworfene neue Haus oder die beste Erweiterung eines Hauses verliehen.
Zu den bisherigen Gewinnern des RIBA Preises gehören Alison Brooks Architects für „House on the Hill” (2021), McGonigle McGrath für „House Lessans” (2019), HaysomWardMiller für „Lochside House” (2018), Richard Murphy Architects für „Murphy House” (2016), Skene Catling de la Peña für „Flint House” (2015), Loyn & Co für „Stormy Castle” (2014) und Carl Turner Architects für „Slip House” (2013).
Einige Wohnhäuser im DKA-Portfolio
Zu den weiteren Entwürfen von David Kohn Architects gehören die verspielte Erweiterung des Sanderson House und ein Landhaus in einer umgebauten Eiscremefabrik. David Kohn Architects wurde 2007 gegründet. Der Bauherr des Red House hat die Architekten bereits ein Mal beauftragt, 2011, mit der Renovierung der Mayfair-Galerie des Kunstsammlers im Zentrum Londons.
Text: Linda Benkö Fotos: Will Pryce
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