Bhutan baut die Stadt der Zukunft

Im Innenraum einer Brücke arbeiten Menschen und ein Roboterarm an Tischen.
Das kleine Königreich hat große Pläne: Mit der visionären „Mindfulness City“ soll ein vorbildlich nachhaltiges Wirtschaftszentrum entstehen, das der Philosophie des „Bruttonationalglücks“ voll entspricht. Gebaut wird nach einem Masterplan des dänischen Star-Architekten Bjarke Ingels.

Gut 30.000 Zuhörer lauschten, als der König von Bhutan am 17. Dezember, dem Nationalfeiertag des Landes, seine Vision der „Mindfulness City“ präsentierte. Und was seine Majestät Jigme Khesar Namgyel Wangchuck ebenda ankündigte, passt wunderbar ins ohnehin schon faszinierende Bild des kleinen, zwischen Indien und Tibet gelegenen Königreichs. Denn obwohl das Projekt Bhutan zu einem wirtschaftlichen Zentrum Südostasiens machen soll, bleibt auch beim Plan für die „Achtsamkeitsstadt“ all das absolute Priorität, was das kleine Land weltberühmt gemacht hat: Buddhistische Werte, die legendäre bhutanische Philosophie des „Bruttonationalglücks“ und Nachhaltigkeit.

Alles für Mensch & Natur

Der über 1.000 Quadratkilometer große Masterplan zum Vorhaben stammt vom dänischen Top-Büro Bjarke Ingels Group (BIG) in Kooperation mit Arup und Cistri. Gebaut wird in Gelephu, im Süden von Bhutan. Und das Königreich, das als einziger Staat weltweit mehr CO₂ aus der Atmosphäre aufnimmt als er ausstößt, wird mit dem Großprojekt wohl ein weiteres Exempel für Umwelt- und Menschenfreundlichkeit setzen: Durch Investitionen in grüne Energie, physische und digitale Vernetzung sowie Bildung soll in der künftigen Sonderverwaltungsregion eine Stadt der Zukunft entstehen.

Luftaufnahme einer Stadt mit Backsteingebäuden und viel Grün entlang eines Flusses.
Blick in die Zukunft: So wird die „Achtsamkeitsstadt" aus der Vogelperspektive aussehen.
Eine belebte Straße mit traditionellen bhutanischen Gebäuden und Passanten.
Tradition & Innovation, geschickt verbunden: Planbild einer typischen Straße der „Mindfulness City“.

Das vom Landschafts- und Stadtplanungsteam von BIG entworfene Konzept umfasst einen neuen internationalen Flughafen, Eisenbahnverbindungen, einen Wasserkraftdamm, öffentliche Räume und spezielle Gebäudetypologien. Letztere beruhen auf den neun Bereichen des Bruttonationalglücks-Index: Psychisches Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Lebensstandard, Zeitnutzung, ökologische Vielfalt und Widerstandsfähigkeit, gute Regierungsführung, kulturelle Vielfalt und Widerstandsfähigkeit sowie Vitalität der Gemeinschaft.

Wir stellen uns die Achtsamkeitsstadt als einen Ort vor, der nirgendwo anders sein könnte. Ein Ort, an dem die Natur gefördert, die Landwirtschaft integriert und die Tradition nicht nur bewahrt, sondern auch weiterentwickelt wird.

von Bjarke Ingels, Architekt und Gründer der Bjarke Ingels Group (BIG)

Ein geschwungenes Holzgebäude steht vor einer Berglandschaft.
Faszinierender Vielfachnutzen: Eine der verbindenden Brücken beherbergt ein Gesundheitszentrum, das östliche und westliche Medizin vereint.

70 Prozent des Landes sind bewaldet. Eingebettet zwischen Bergen, Wäldern und Flüssen ist Bhutan zudem einer der letzten Hotspots der biologischen Vielfalt der Welt. Die neue Achtsamkeitsstadt soll diesen Vorzug verstärken. Und zwar, indem sie sich zu einem lebendigen Geflecht aus verbundenen Ökosystemen und Stadtvierteln entwickelt, die vom Netz der 35 das Gebiet durchziehenden Flüsse und Bäche geformt werden.

Sanft von ländlich zu urban

Die daraus resultierenden bandförmigen Stadtteile ähneln Reisfeldern. Sie bilden von den Hügeln ins Tal abfallende Terrassen. Die Stadt nimmt an Dichte zu: Vom ländlichen, erholsamen Hoch- bis hin zum dichten, urbanen Tiefland.

Luftaufnahme einer Siedlung mit Ziegeldächern in einer bergigen Landschaft.
Bhutan setzt seine „Achtsamkeitsstadt“ behutsam in die Naturlandschaft.
Reisfelder mit arbeitenden Menschen und traditionellen Häusern vor einer Bergkulisse.
Wasserläufe bestimmen sowohl die dörflichen, als auch die urbanen Zonen.

„Wir stellen uns die Achtsamkeitsstadt als einen Ort vor, der nirgendwo anders sein könnte. Ein Ort, an dem die Natur gefördert, die Landwirtschaft integriert und die Tradition nicht nur bewahrt, sondern auch weiterentwickelt wird“, schildert Bjarke Ingels. Das von Wasserwegen geprägte Gelephu wird, so der Architekt, zu einem Land der Brücken, das Natur und Menschen sowie Vergangenheit und Zukunft lokal und global verbindet.

Multifunktionale Brücken

Wie Bhutans traditionelle Dzongs werden auch diese neuen, bewohnbaren Brücken zu kulturellen Wahrzeichen, die zugleich als Verkehrsinfrastruktur und städtische Einrichtungen dienen.

Eine lange, überdachte Brücke mit Menschen überquert einen Fluss.
Auch die traditionelle Handwerkskunst des Königreichs Bhutan bekommt eine eigene Brücke als kommunikative Präsentationsfläche. (siehe auch Beitragsbild)

„Der Sankosh-Tempel-Damm bettet die Grundwerte der Achtsamkeitsstadt in eine kaskadenförmige Landschaft aus Stufen und Podesten ein. Die Technik wird zur Kunst und die Kräfte der Natur zur Power“, beschreibt Ingels. Und weil der dänische Star-Architekt für spektakulär innovative Projekte wie „Copen Hill“, „CapitaSpring“ oder das „Sluishuis“ weltbekannt ist, darf man davon ausgehen, dass seine Vision auch in Bhutan Realität wird.

Die Technik wird zur Kunst und die Kraft der Natur zu Energie.

von Bjarke Ingels, Architekt und Gründer der Bjarke Ingels Group (BIG)

Ein Staudamm mit einem bunten Ziegelmuster zwischen bewaldeten Hügeln.

Mehr als Wasserkraft zur Energiegewinnung: Der Sankosh-Tempel-Damm.

Eine Nahaufnahme einer Fassade mit einem Muster aus blauen und roten Rauten, die ein Gebäude teilweise freigeben.
Der Damm, der einen Tempel beherbergt, dient auch als Brücke, Treffpunkt und Ort für meditative Spaziergänge.

Der Masterplan geht ins Detail: Natürliche Elemente und bestehende Infrastruktur, Landwirtschaft und Versorgungseinrichtungen schaffen elf unterschiedliche Stadtteile.

Manadals als Planungsmuster

Jedes dieser Viertel wird nach den Grundsätzen des Mandalas entworfen. Definiert durch symmetrisch um einen zentralen öffentlichen Raum angeordnete Typologien. Diese wiederholen sich, wodurch ein fließender Übergang entsteht: Von kleinen, in der Landschaft verstreuten Gebäuden im Norden bis zu größeren Grundrissen innerhalb der urbanen Umgebung im Süden.

Traditionelle Gebäude mit dunklen Dächern und beleuchteten Fenstern in Bhutan.
Absoluter Vorrang für nachhaltige Materialien: Neue Bauten werden aus Holz, Bambus und Stein errichtet.

Intime, mit durchlässigen Steinen gepflasterte Straßen sorgen für umweltfreundliche Widerstandsfähigkeit, indem sie Regenwasser versickern lassen, statt es in die Kanalisation zu leiten. Dass für die neuen Gebäude einheimische Materialien wie Holz, Stein und Bambus verwendet werden, versteht sich von selbst. Genau wie die Tatsache, dass landestypische Motive wie Gesimse, Ornamente und Dachlandschaften das Aussehen aller Bauten prägen.

Die Achtsamkeitsstadt von Bhutan wird zu einem Zeugnis für die untrennbare Verbindung der Menschheit mit der Natur. Und zu einem globalen Beispiel für den Aufbau einer nachhaltigen menschlichen Präsenz auf der Erde.

von Giulia Frittoli, BIG Partnerin

Ein Gebäude mit dunklem Dach inmitten einer grünen Landschaft mit einem Fluss.
Spirituelles Zentrum auf einer verbindenden Brücke der neuen Stadt: Das Vajrayana-Zentrum, das ...
Innenansicht eines Vajrayana-Zentrums mit Holzboden und traditionellen Kissen.
...Einblick in die täglichen Praktiken der Mönche und Meister der Achtsamkeit gewährt.

Um bestehende und künftige Bebauung vor Überschwemmungen in der Monsunzeit zu schützen, werden entlang der von Norden nach Süden verlaufenden Flüsse und Nebenflüsse des Geländes Reisfelder angelegt. Diese dienen auch als Korridore für die Artenvielfalt der lokalen Flora und Fauna. Und sie belassen die Wanderrouten von Elefanten und anderen Wildtieren ungestört.

Bhutan plant fürs nationale Glücksgefühl

Die Stadtteile, die durch Flüsse voneinander getrennt sind, werden durch drei wichtige Mobilitätsverbindungen vernetzt. Gelegentlich werden diese als Verkehrsinfrastruktur mit zivilen und kulturellen Einrichtungen kombiniert. Dadurch bekommt die Achtsamkeitsstadt von Bhutan die von Architekt Bjarke Ingels beschriebenen „bewohnbaren Brücken“. Und selbstverständlich sind auch diese auf jeden der neun Bruttonationalglücksbereiche zugeschnitten.

Eine Person fährt mit dem Fahrrad auf einer gepflasterten Straße in Richtung eines Busbahnhofs vor einer Hügellandschaft.
Die verschiedenen Stadtteile werden durch bequeme Transportkorridore verbunden.
Innenansicht eines mehrstöckigen Universitätsgebäudes mit Holzkonstruktion und vielen Menschen.
Lebens- & Lernqualität in Holz: Auf einer Brücke entsteht die Universität der Zukunftsstadt von Bhutan.

Jede dieser Brücken beherbergt wichtige Ziele in der Stadt. Dazu zählen etwa der neue Flughafen und ein spirituelles Vajrayana-Zentrum, das Einblick in die täglichen Praktiken der Mönche und Meister der Achtsamkeit gewährt. Auch ein Gesundheitszentrum, das östliche und westliche Medizin vereint, und eine Universität, die ihre akademischen Aktivitäten vorstellt, finden auf den neuen Brücken Platz.

Hotspots, die verbinden

Ein hydro- und aquaponisches Gewächshaus, in dem alte landwirtschaftliche Praktiken und moderne Agrarwissenschaft präsentiert werden, ist ebenfalls Teil des großen Plans. Wie auch ein Kulturzentrum, in dem Besucher bhutanische Kultur und Bräuche erkunden können. Und ein Markt mit bhutanischem Textil, den BIG ebenso auf eine der neuen Brücken setzt.

Ein Gebäude mit rautenförmigen Fenstern vor einer Bergkulisse.
Neue Brücke zur Welt: Der Spatenstich für den internationalen Flughafen der „Mindfulness City“ ist bereits erfolgt.

Eine besonders spannende Brücke ist der erwähnte, hydroelektrische „Sankosh-Tempel-Damm“. Diesen setzt der Masterplan an die westliche Grenze der Stadt. Mit seiner stufenförmigen Stützmauer, die Aussichtspunkte, Treppen für meditative Spaziergänge und einen Tempel bietet, zählt er zu den eindrucksvollsten Bauten des Entwurfs: Besucher und Pilger werden entlang des künstlichen Felsens auf zahllosen individuellen Wegen zum Besucherzentrum und zum Tempel hinauf- und hinabsteigen können.

Tradition mit grüner Vision

Der „Sankosh-Tempel-Damm“ verkörpert – in architektonischer Form – alle grundlegenden Elemente von Gelephu: Die harmonische Koexistenz von Kultur und Natur. Konzipiert aus dem reichen Erbe des Königreichs Bhutan und dessen Wunsch nach einer blühenden Zukunft.

Das Innere eines Flughafens mit einer markanten Holzkonstruktion und einem Flugzeug im Hintergrund.
BIGs Masterplan erfüllt des Königs visionäre Ziele. Bild oben: Der neue, internationale Flughafen von innen.
Ein Mönch steigt eine der vielen Treppen in einer surrealen Architektur hinauf.
An der Außenfront des Sankosh-Tempel-Damms können Gäste und Pilger nach Belieben auf- und absteigen.

BIG Partnerin Giulia Frittoli schildert das Ziel des Großprojekts so: „Inspiriert von der bhutanischen Kultur des Respekts und des Mitgefühls für andere und die Natur, soll die Achtsamkeitsstadt die ökologischen Systeme durch eine Stadtentwicklung verbessern, die Flora und Fauna sowie Menschen und Ideen miteinander verbindet. Sie wird zu einem Zeugnis für die untrennbare Verbindung der Menschheit mit der Natur. Und zu einem globalen Beispiel für den Aufbau einer nachhaltigen menschlichen Präsenz auf der Erde.“

Bhutan „baut“ Zuversicht

Ein erster Meilenstein des faszinierenden Vorhabens wurde im Dezember 2023 gelegt. Und zwar in Form des Spatenstichs für den neuen internationalen Flughafen von Bhutan. Der Trockenhafen ist bereits im Bau. Damit entstehen zwei große Knotenpunkte, die die Kapazitäten von Gelephus bestehender Tourismusinfrastruktur erweitern werden.

Kleine Länder wie Bhutan können schnell und innovativ Pläne umsetzen, vor denen andere Länder möglicherweise zurückschrecken.

von Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, König von Bhutan

Ein Markt mit Obst- und Gemüseständen unter einem farbenfrohen, gemusterten Baldachin.
Bunt, lokaltypisch und modern zugleich: Die „Markt-Brücke“ der Achtsamkeitsstadt des kleinen Landes, das „Bruttonationalglück“ und Naturschutz in seiner Verfassung verankert hat.

An Nachfrage fehlt es nicht. Die Zahl jener, die das außergewöhnliche Königreich besuchen wollen, steigt seit Jahren rasant. Und läuft alles wunschgemäß, wird das Projekt „Achtsamkeitsstadt“ wohl dafür sorgen, dass Bhutan in Sachen Nachhaltigkeit und Bruttonationalglück weiterhin brilliert – künftig jedoch obendrein mit einer einzigartigen Innovation. Ganz im Sinne seiner auf Optimismus konzentrierten nationalen Vision „Bhutan Believe“, die den Bürgern neue Perspektiven eröffnen, sie stolz auf ihr Land machen und sie selbst, aber auch Besucher aus aller Welt begeistern soll.

Text: Elisabeth Schneyder Bilder: Department of Tourism Bhutan, BIG, Brick Visual, Atchain

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