Gipfelgespräch: Das Ende der Postleitzahlenmedizin

Die Teilnehmenden des Gipfelgesprächs (v. li. n. re.): Moderator Herbert Puhl, Robert Müllegger, Szabolcs Tobi, Andreas Püspök, Birgit Grünberger, Marion Alt, Ojan Assadian, Stephan Kriwanek
Warum wohnortnahe Versorgung weit mehr bedeutet als nur kurze Fahrtwege.

Wohnortnahe medizinische Versorgung wird immer wichtiger – vor allem in der Onkologie. Sie steht für kurze Wege und eine niederschwellige, bundesländerübergreifende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Aber wie steht es um die Realisierung eines solchen Modells in Österreich? Was braucht es dafür und wie kann die bestmögliche Versorgung im Sinne der Patientinnen und Patienten gelingen? Fragen, die in einem PRAEVENIRE Gipfelgespräch von einer Expertenrunde diskutiert wurden.

In seinem Eingangsstatement machte Ojan Assadian vom Landesklinikum Wiener Neustadt, anhand von zwei Praxisbeispielen deutlich, auf welche Hürden Betroffene und Kliniken stoßen, wenn wohnortnah und bundesländerübergreifend therapiert werden soll. Einen erschwerenden Umstand ortet Assadian im dualen Finanzierungssystem. „Ich halte diese Postleitzahlenmedizin für nicht akzeptabel. Die Geldmittel wären da. Sie werden nur durch eine gläserne Wand in der Verteilung gehindert“, so der Experte. „Es ist fünf nach zwölf und wir müssen unser Gesundheitssystem zumindest im Bereich der teuren Therapien und Diagnosen neu denken“, fordert er und schlägt als ersten Schritt vor, Netzwerkregionen zu schaffen.

Fehlende Ressourcen

Kritik, die auch Stephan Kriwanek von Gesundheit Burgenland, teilt. In seinem Eingangsstatement wies er zudem auf ein Paradoxon hin: Ausgerechnet neue, wirksame Therapien und die Ambulantisierung, die eben für Betroffene so wichtig sind, wirken sich negativ auf die derzeitige Struktur des Gesundheitssystems aus. „Die Kosten für die neuen medikamentösen Therapien steigen enorm an, davon ist besonders die Onkologie betroffen. Man kann sagen, dass die Onkologie ein Opfer ihres Erfolgs geworden ist. Durch den hohen Bedarf müssen zusätzliche budgetäre Mittel für die Finanzierung der Personal- und Medikamentenkosten bereitgestellt werden“, fasst er zusammen.

Zentrumsmedizin

Für Birgit Grünberger, Onkologin am Landesklinikum Wiener Neustadt, muss wohnortnahe Versorgung in der Onkologie ohnehin neu definiert werden. Eine wichtige Frage dreht sich darum, welche Schritte der Behandlung von Erstdiagnose, Therapie, Kontrollen bis hin zum Follow-up, im Zentrum und welche im wohnortnahen Krankenhaus stattfinden können und sollen. Für sie brauche es hier vielmehr eine abgestufte Versorgung mit Schwerpunktzentren, Standardkrankenhäusern und einem zentralen, interdisziplinären Tumorboard. „Die onkologische Betreuung verlangt eine unsagbare Expertise. Das ist nicht mehr in einer Person vereinbar, es braucht ein ganzes Team. Das funktioniert nicht in jedem Krankenhaus und das muss es auch nicht“, so Grünberger. Über ein Tumorboard könne dieses Expertenteam aus verschiedenen Krankenhäusern zugeschaltet werden. Dieses Board soll die beste Therapie festlegen, die Verabreichung selbst kann dann wohnortnäher erfolgen, so Grünberger. Auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Bereich, in dem zum Beispiel Blutbildkontrollen oder auch Nachsorgen durchgeführt werden können, ist wünschenswert.

Gipfelgespräch: Das Ende der Postleitzahlenmedizin

Kooperation

Diese interdisziplinäre Kooperation erachtet auch Marion Alt von der Anstaltsapotheke der Klinik Oberwart als essenziell. „Wir wollen in der Onkologie vermehrt klinische Pharmazeutinnen und Pharmazeuten einsetzen, da diese multidisziplinäre Zusammenarbeit nachweislich Gutes für die Patientin und den Patienten erreichen kann“, erklärt sie. Dass neue Strukturen geschaffen werden müssen, meint auch Robert Müllegger, ebenfalls vom Landesklinikum Wiener Neustadt. „Es ist eine Illusion die Medizin als Ganzes wohnortnah anbieten zu können. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Expertise, sondern in den immer enger werdenden Personalressourcen – sowohl in der Pflege, als auch in der Ärzteschaft“, erklärt er. Die Zukunft liege in der Zentrumsmedizin. Es müsse zu einer Umschichtung von Ressourcen kommen. Die wohnortnahe Versorgung müsse auf Ebene der Basisversorgung angeboten werden.

Wer zahlt?

Stark debattiert wurde auch über das föderale Finanzierungsmodell. Andreas Püspök vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Eisenstadt äußert sich kritisch. „Um zu erkennen, wer wo welche Leistung erbringt, ist das jetzige System prinzipiell nicht schlecht, jedoch erwecken die Finanzausgleichsverhandlungen teilweise den Eindruck, als wäre es ein Feilschen darum, welches Bundesland dem anderen mehr Leistung erbracht habe“, sagt er. Die Instrumente für eine faire Steuerung seien für ihn im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG), dem bundesweiten zentralen Planungsinstrument für die integrative Versorgung in Österreich, durchaus gegeben, nur müssten sie neu gedacht und auch entsprechend eingesetzt werden. So wird beispielsweise eine Einzelfallabrechnung von Gastpatientinnen und -patienten aus anderen Bundesländern angedacht, was jedoch im derzeitigen System wieder zu parallelen Strukturen in den jeweiligen Ländern führen würde und nicht zu einer tatsächlichen bundesländerübergreifenden Kooperation, die wesentlich ressourcenschonender wäre.

Für die Expertenrunde ist daher eine Verteilung der finanziellen Mittel auf Bundesebene oder nach Regionen aufgeteilt sinnvoller als auf Länderebene. Die Gelder müssten von einer überregionalen Institution nach medizinischen Notwendigkeiten geplant und eingesetzt werden. Auf diese Weise würde die Herkunft der Patientinnen und Patienten keine Rolle spielen. Ein eigener Finanzierungstopf für besonders teure Therapien wäre ebenfalls ein interessanter Ansatz.

Pharma-Expertise

Durch die gesteigerte Anzahl der Therapien haben freilich auch die Spitalsapotheken einen erhöhten Arbeits- und Kostenaufwand. Das bestätigt auch Szabolcs Tobi von der Anstaltsapotheke am Landesklinikum Wiener Neustadt. Es fallen aber nicht nur die Therapien selbst ins Budget, sondern auch die Begleit- bzw. supportive Medikation. „Bestimmte Nebenwirkungen können nur durch viel Expertise und mit Spezialarzneimitteln behandelt werden.“ Dennoch zieht er eine positive Bilanz: „Es zeigt aber, dass die Versorgung, die durch das professionelle Team in den Anstaltsapotheken zentralisiert bleibt, trotz dieser Aufwandsteigerung auf einem hohen Niveau garantiert werden kann.“

Bei wohnortnaher Versorgung geht es längst nicht nur um kurze Strecken für Patientinnen und Patienten, sondern auch um eine funktionierende und logische Vernetzung der Gesundheitsleistungen. Es braucht eine einheitliche Struktur, die nicht nur die medizinische, sondern auch die finanzielle Zusammenarbeit der einzelnen Anstalten fördert und Bundesländergrenzen hinter sich lässt. Daher müssen neue, transparente Finanzierungsmodelle entwickelt, neue personelle Ressourcen geschaffen und die (Infra-)Strukturen im Gesundheitssystem an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten angepasst werden. Postleitzahlen dürfen laut den Teilnehmenden keine Hürden mehr sein. „Wir sind nicht Ärztinnen und Ärzte geworden, um zu schauen, aus welchem Bundesland die Betroffenen kommen“, betont Assadian.

Marion Alt, Apothekenleitung Anstaltsapotheke, Klinik Oberwart 
Ojan Assadian, Ärztlicher Direktor, Landesklinikum Wiener Neustadt 
Birgit Grünberger, Leitung Innere Medizin, Hämatologie und internistische Onkologie, Landesklinikum Wiener Neustadt 
Stephan Kriwanek, Medizinischer Geschäftsführer, Gesundheit Burgenland 
Robert Müllegger, Leitung Dermatologie und Venerologie, Landesklinikum Wiener Neustadt 
Andreas Püspök, Vorstand Abteilung Innere Medizin II – Gastroenterologie und Onkologie, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Eisenstadt 
Szabolcs Tobi, Apothekenleitung Anstaltsapotheke, Landesklinikum Wiener Neustadt 

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