„Die Wohnformen verändern sich“

Prof. Simon Günther, Prof. Michael Obrist - TU Wien
Der neuerliche Lockdown verändert den Alltag und stellt Städte vor neue Herausforderungen. Welche Folgen hat die Krise für den Wohnbau, welche fürs soziale Leben? Zwei Experten im Gespräch

KURIER: Einerseits sind wir heute mobiler und übersiedeln öfter als früher, andererseits ist man Corona-bedingt viel daheim. Wie wirken sich diese Kontraste aus?

Simon Güntner: Die Kontraste bewirken zunächst Verunsicherung und Stress, man muss sich mit einer ungeahnten und unerwünschten Situation arrangieren, auch wenn es alle gerne anders hätten. Das funktioniert unterschiedlich gut – soziale Ungleichheiten werden verstärkt, was sich nicht nur am Arbeitsmarkt und in den Schulen, sondern gerade auch im Wohnen zeigt. Besonders belastet sind diejenigen, die in beengten Verhältnissen klarkommen müssen, auch ist ein rapider Anstieg an Delogierungen zu befürchten.

Michael Obrist: Eine groß angelegte Studie in Deutschland zeigt, dass Alleinlebende den ersten Lockdown besser verkrafteten als Familien. Die psychischen Belastungen waren allerdings in allen Haushaltsformen hoch. Für Familien zeigte sich jedoch eine Ambivalenz: Während die Enge zwischen Homeschooling und Homeoffice belastend war, wurde die Zeit miteinander auch wertgeschätzt.

Wie wirken generell solche Viel-Wohn-Phasen auf die Menschen, was macht das häufige Zu-Hause-Sein mit der Gesellschaft?

Güntner: Die Umstellungen fordern zur Kreativität auf – das kann sich auch im Neuentdecken und einer Neuaneignung der Wohnung äußern. Wir haben in einer Umfrage bei Studierenden vielfältige Formen der Selbstdisziplinierung und Tagesstruk- turierung festgestellt, mit denen die weggefallene räumliche Trennung kompensiert wurde: von selbstaufgelegten Regeln, wann der Laptop auf dem Tisch steht, bis hin zu Fitnessprogrammen im Wohnzimmer. Eltern von kleinen Kindern haben etwa improvisierte Spiel- und Lernmöglichkeiten in Flur oder Abstellräumen geschaffen. Generell aber kam es vielerorts zu großen psychischen und physischen Belastungen.

„Wird Homeoffice zur Normalität,  ist die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die den Städtebau des 20. Jahrhunderts bestimmt hat, nicht mehr
zu halten“

von Michael Obrist

Architekt

Wie verändert sich unser Lebensstil hinsichtlich Wohnen? Lassen sich Parallelen zur Biedermeier-Zeit ziehen?

Güntner: Die Gemütlichkeit der bürgerlichen Biedermeier-Kultur hat wenig mit der Wohnsituation im Corona-bedingten Lockdown zu tun. Damals wurde die Wohnstube zum Rückzugsort, während der Pandemie wurde die Stube von Arbeit und Schule erobert, was in vielen Haushalten ganz und gar nicht gemütlich ist. Wenn das Homeoffice das Wohnzimmer bestimmt, bleibt wenig Raum für Muße und Geselligkeit. Und mit dem Biedermeier als Reaktion auf die Karlsbader Beschlüsse von Metternich hat es noch weniger zu tun, da wir es 2020 mit einem kurzfristig verordneten Rückzug zu tun haben, um unser Gesundheitssystem nicht zum Kollaps zu bringen.

Obrist: Es kam ja gerade nicht zu einem Rückzug ins Private bzw. aus dem Politischen. Vielmehr bekam das „Wohnen“ Konkurrenz – neben Homeschooling und Homeoffice wird erwartet, dass die Menschen aus ihren Wohnungen heraus am öffentlichen Geschehen teilnehmen. Die Digitalisierung des Alltags wurde rapide gesteigert und damit die Trennung von öffentlichen und privaten Sphären weiter aufgeweicht. In den Städten wurde die Schnittstelle von privaten und öffentlichen Räumen, insbesondere die Balkone, intensiv genutzt, um in Austausch mit der Nachbarschaft zu treten. In Italien wurden die Balkone auch zu einem Raum politischen Ausdrucks.

Werden Stadtmenschen künftig wieder mehr Wohngemeinschaften bilden, um in Krisenzeiten nicht sozial isoliert zu sein?

Güntner: Das ist schwer zu sagen. Der Trend zur Ausdifferenzierung von Wohn- und Haushaltsformen wird anhalten, aber derzeit gibt es sicherlich bei vielen noch die Hoffnung, dass das alles bald wieder vorbei ist. Die Wahl der Wohnform ist eher vom eigenen Lebensentwurf und vom verfügbaren Einkommen geprägt. Und es gibt große kulturelle Unterschiede im Wohnen. Die Erfahrungen der vergangenen Monate in Wohn- und Hausgemeinschaften und in Baugruppen haben gezeigt, dass auch dort die Pandemie die sozialen Interaktionen beschränkt hat bzw. diese immer neu verhandelt werden müssen. Die Gefahr der sozialen Isolation ist in Ein-Personen-Haushalten besonders evident, aber eben nicht nur dort. Darin liegt eine gesellschaftliche Herausforderung, der auf verschiedenen Ebenen begegnet werden muss.

„Der Digitalisierungsschub wird weitreichende räumliche Konsequenzen haben“

von Simon Güntner

Raumsoziologe

Welche Auswirkungen hat das aktuelle Zeitgeschehen auf den Wohnbau bzw. die Stadtentwicklung und die diversen (Infra-)Strukturen?

Obrist: Derzeit wird in den Planungsämtern intensiv über die Zukunft des öffentlichen Raums nachgedacht. In einigen Städten wurde der Lockdown auch genutzt, um Maßnahmen zur Klimaanpassung zu initiieren, wie z. B. die Pop-up-Radwege in Wien oder die Superparks in Barcelona. Der Digitalisierungsschub wird jedenfalls weitreichende räumliche Konsequenzen haben, nicht zuletzt auch für die Einzelhandelsstandorte. Falls Homeoffice zur neuen Normalität wird, hat das Auswirkungen auf Flächenwidmungen: Die kategorische Trennung von Wohnen und Arbeiten, die den Städtebau des 20. Jahrhunderts bestimmt hat, ist nicht mehr zu halten.

Was bedeutet das konkret für die Stadtplaner?

Obrist: All das kann dazu führen, dass ein Großteil der Bürogebäude in dieser Form nicht mehr gebraucht wird und wir unsere Arbeitswelten neu überdenken müssen. Es sollte prinzipiell so gebaut werden, dass Gebäude eine selbstverständliche und flexible (Um-)Nutzung zum Wohnen bzw. Arbeiten garantieren können – dies fängt bei den Deckenhöhen an und geht bis hin zur Raumaufteilung. Nicht zuletzt feiern die Parks und der öffentliche Raum eine Renaissance.

Güntner: Der Druck auf das, was die Wohnung im Lockdown zu leisten hatte und hat, ist enorm und kann nicht von der Wohnung selbst aufgefangen werden: Wohnraum, Arbeitsstätte, Freizeitraum, Bildungseinrichtung für die Kinder, Spielzimmer, Sportraum. Das können nur resiliente Häuser und Nachbarschaften bieten, wo in kürzester Distanz Ausweichräume erreichbar sind: Co-Working-Räume, Gemeinschaftsräume, Werkstätten, Rückzugsräume etc. Menschen suchen den realen Austausch mit Menschen, und die Zufälligkeit der Begegnungen von Menschen, Gütern und Ideen, die eine Stadt bietet, kann nicht durch den digitalen Raum ersetzt werden.

Was ist unter einem resilienten Haus bzw. einer resilienten Stadt zu verstehen?

Güntner: Als resilient gilt ein System, das in der Lage ist, sich nach einer Störung oder Verwundung selbst zu heilen. Das lässt sich auf Häuser und Städte anwenden. Bedeutsam für die Resilienz einer Stadt sind u. a. aktivierbare Flächenreserven, in Notfällen rasch einsetzbare Fachkräfte, vielfältige und variable Nutzungsmuster und städtebauliche Strukturen, sichere und nachhaltige Gebäude, und nicht zuletzt robuste, zuverlässige Infrastrukturen.

Welche Kurz- und Langzeiteffekte lassen sich aus der Corona-Situation ableiten?

Güntner: Ein weitreichender Effekt ist die radikale und rapide Digitalisierung aller Lebensbereiche, die auch eine Ausweitung des sogenannten Überwachungskapitalismus bedeutet. Die gesellschaftspolitisch drängende Frage richtet sich auf die Organisation und Kontrolle der alltagsbestimmenden digitalen Infrastrukturen. Dass die wirtschaftlichen Folgen dramatisch sind, ist hinlänglich bekannt. Das wird sich auf die kommunalen Investitionsspielräume auswirken und Einsparungen erzwingen.

Obrist: Die nahe Zukunft wird alles andere als rosig sein. Nur war sie das vor der Krise auch nicht. Die Herausforderungen der Zukunft in puncto Nachhaltigkeit und Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung und Automatisierung sowie die damit einhergehende Veränderung unserer Arbeits- und Lebensweisen waren schon vorher da. So erleben wir momentan beides – sowohl einen enormen Innovationsschub durch die Krise als auch einen Blick in einen möglichen Abgrund, den wir kollektiv abwenden können.

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