Wien: Letztes Frühstück im Café Drechsler
Tablettweise werden Schnittlauchsemmeln, Räucherlachs und Spiegeleier aus der Küche getragen, wie eine große Parade zum Abschied. Es ist Sonntagmittag am letzten Öffnungstag des legendären Café Drechsler am Wiener Naschmarkt.
„Ich bin traurig und wehmütig – und verkatert von gestern Abend“, sagt Miriam Brownstone und ihr Vater nickt zustimmend. So kurz vor der Schließung verbringt die Wienerin fast jede freie Minute im Drechsler. Wenn auf jemanden die Bezeichnung Stammgast zutrifft, dann aus sie. Schon ihr Papa aß vor 55 Jahren zum ersten Mal im Drechsler, aufgewachsen ist sie ganz in der Nähe. „Ich habe noch den alten Herrn Drechsler gesehen, wie er in der Früh die Espressi zum Naschmarkt gebracht hat“, erinnert sie sich. Für Brownstone schließt nun ihr verlängertes Wohnzimmer. Den neuen Inhabern – das Lokal soll von Koch Niko Kölbl und Benjamin Weidinger neu eröffnet werden – will sie keine Stammkundschaft versprechen.
Es ist eine Institution, die in der Nacht auf Montag ihre Pforten geschlossen hat. 1919 von Engelbert Drechsler gegründet galt es als erste Anlaufstelle für Nachtschwärmer, die ab vier Uhr Früh ihrem Gusto auf Gulasch frönen wollten.
Künstlerflair
Auch nach der Übernahme und Wiedereröffnung durch Manfred Stallmajer 2007 blieb es seinem Ruf als Nachtcafé mit langen Öffnungszeiten treu. Letztendlich konnte Stallmajer, auch Direktor des Hotels The Guesthouse Vienna, sein Konzept – sechs Tage in der Woche 24 Stunden lang offen zu halten – nicht umsetzen. Dazu kamen Probleme mit dem Schanigarten. „Nach elf Jahren ist es genug, ich will mich auf das Hotel konzentrieren“, erklärte Stallmajer.
So galt für viele Wiener am Sonntag das Motto: Noch einmal im Drechsler frühstücken. Manche schauten dabei – ein typisches Wiener Phänomen – zum ersten Mal vorbei, aufgescheucht durch die Ankündigung der Schließung. „Es ist echt schade“, sagt etwa Gast Olaf Grüneberg, der sich zum Frühstück eine Eierspeise genehmigte.
Auch Nikita Glavanits und seine Freunde Andreas Schindlecker und Jennifer Richter wünschten, sie hätten das Drechsler früher entdeckt. "Wir wollten es hier noch ein letztes Mal genießen", erzählt der Schüler. Besonders der familiäre Umgang hatte es den Freunden angetan.
„Wir sind zum Verabschieden hier“, erzählt Stammkundin Bettina Damian während sie den Blick noch einmal durchs Café schweifen lässt. „Die Kellner, das Essen, die Atmosphäre werden uns fehlen.“ Vielleicht werde man das neue Lokal besuchen, noch sei sie aber in der Trauerphase.
Dem kann die Damenrunde rund um Hedi Schaffer nur zustimmen. Die Frauen lernten einander vor Jahren in der Hundezone kennen. Das Drechsler wurde zum wöchentlichen Treffpunkt, da man die Tiere mitnehmen durfte. Vor allem die aufmerksamen Kellner werden fehlen, meinen sie. Und natürlich das künstlerische Flair, das auch Kabarettist Alfred Dorfer und Schriftsteller Robert Menasse schätzten. Die Fußstapfen für die neuen Besitzer sind groß.
Kommentare