„Termine einhalten ist besser als Haft“

Die Sozialnetz-Konferenz tagt im Gefängnis, entwirft mit dem Jugendlichen einen „Ausstiegsplan“ und holt ihn damit aus der Haft.
Neues Sozialnetz-Modell holt jeden dritten jungen Verdächtigen aus dem Gefängnis.

Mit 16 kam Samir zum ersten Mal in U-Haft. So wie rund 280 andere Jugendliche, die pro Jahr unter umstrittenen Zuständen hinter Gittern auf ihren Strafprozess warten. Samir hatte jemandem ein blaues Auge verpasst, und er war am mehrfachen Handtaschen-Raub eines Komplizen beteiligt. Die Verhaftung war Mitte August, es gab noch keine Verhandlung, normalerweise würde Samir bereits seit drei Monaten in der überfüllten Justizanstalt Wien-Josefstadt dunsten.

„Termine einhalten ist besser als Haft“
Gerasdorf
Ein brandneues Modell desBewährungshilfe-Vereins Neustarthat Samir schon zwei Wochen nach seiner Verhaftung aus dem Gefängnis geholt: die sogenannte Sozialnetz-Konferenz (siehe Zusatz­info). Bis jetzt ist das bei 15 Jugendlichen gelungen, keiner wurde rückfällig. Neustart-Geschäftsführer Christoph Koss erwartet, dass mit der Methode 100 jugendliche U-Häftlinge – also jeder Dritte – aus dem Gefängnis geholt werden können.

Ein Koordinator von Neustart sammelte Samirs allein erziehende Mutter, die selbst Hilfe braucht, deren Betreuerin, Samirs Bruder, den Bewährungshelfer und einen persönlichen Vertrauten (zu ihm kommen wir später) zusammen. Sie setzten sich gemeinsam mit dem Burschen in der Justizanstalt an einen Tisch und erarbeiteten einen Plan, wie Samir wieder auf den „rechten Weg“ zurückfinden kann. Erster Punkt: Abbruch der Kontakte zur alten Clique und neue Handynummer. Weiters: Entschuldigungsbrief an die Opfer, Schadensgutmachung (übernimmt die Familie), Drogentherapie plus Harntests zur Kontrolle, feste Tagesstruktur für Arbeit und Freizeit (wie bei der Fußfessel) – bis zum Prozess muss Samir jeden Abend um spätestens 20 Uhr daheim sein, und Mutter hat das letzte Wort. Das gibt auch der psychisch angeschlagenen Frau Auftrieb.

Termine einhalten

Der Richter akzeptierte diesen Plan und ließ Samir enthaften. Sein erster Weg in Freiheit führte den Burschen in die Papierhandlung, wo er sich einen Kalender kaufte. „Es ist besser, ich halte meine Termine ein, als dass ich in Haft zurück muss“, sagt Samir im KURIER-Gespräch.

„Termine einhalten ist besser als Haft“
Markus Netter
Demnächst beginnt er – inzwischen 17 – eine Lehre in einem Hotel. Das hat ihm sein Vertrauter Markus Netter vermittelt. Netter arbeitet im Gesundheitsbereich und nebenbei ehrenamtlich für ein Sozialprojekt in Wien-Favoriten: „Wir nützen unsere Netzwerke für Jugendliche, meist Migranten, die wenig Perspektiven haben. Von dem einen ist die Freundin schwanger, die wissen nicht wohin, von dem anderen ist der Bruder im Gefängnis, er bittet darum, dass ihn jemand besucht.“ Netter nennt das „Chancengerechtigkeit“. Bei Samir war es so, dass Netter zufällig eine Bekannte aus Jugendtagen traf. Sie ist Hoteldirektorin, der geborene Algerier Samir spricht französisch und arabisch, so kam’s zur Lehrstelle. Netter ist begeistert von der Sozialnetz-Konferenz: „Die U-Haft ist traumatisierend fürs Leben und ein Stigma. Die Hoteldirektorin hat auch zunächst gesagt: ,Und wenn im Hotel was gestohlen wird?‘ Ich hab’ jetzt die Verantwortung.“

Samir ist gut drauf. Er hat sich beim American-Football-Team Vikings angemeldet, im Dezember beginnt die Saison. „Jetzt geh’ ich beim Training zuschauen“, sagt er und sprintet davon.

Nachgefragt.Neustart-Geschäftsführer Christoph Koss über das neue Projekt.

KURIER: Was erwarten Sie sich von der Sozialnetz-Konferenz?

Wir haben im EU-Vergleich die höchsten Zahlen bei Jugendlichen in U-Haft. Unser Ziel ist, 30 Prozent aus der U-Haft zu holen.

Sind die Richter eher zögerlich?

Gar nicht. In Wien verdanken wir es dem Engagement des Präsidenten des Landesgerichts, Friedrich Forsthuber, dass uns die Richter viele Fälle zuweisen.

Welche Leute machen mit?

Es ist beeindruckend, welche Kompetenzen es bei den Leuten gibt. Da findet sich ein Fußballtrainer, ein ehemaliger Lehrer, ein Bruder, die sind engagiert und werden von Profis unterstützt.

Und die Jugendlichen lehnen sich zurück?

Die müssen selbst ihren Beitrag leisten und sagen: „So viele Leute stehen hinter mir, ich will keinen enttäuschen.“

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