Man muss nicht gläubig sein, um dem Pilgern etwas abgewinnen zu können. Tagelang durch die Landschaft wandern, entschleunigt zur inneren Ruhe finden und Schritt für Schritt dem Ziel näherkommen.
Wessen Zeit, Fitness oder Budget für die Pilgerreise nach Santiago de Compostela, Lourdes oder Mariazell nicht reichen, für den hat die Erzdiözese Wien nun eine Alternative mitten in der Stadt. Unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“ führt der spirituelle Weg über mehrere Stationen durch den ersten Bezirk bis zum – wohin auch sonst? – Stephansdom. Vier Routen unterschiedlicher Länge stehen zur Auswahl. Man kann bei einer der Innenstadtkirchen oder an einem Öffi-Knotenpunkt rund um den Ersten starten.
Oase der Stille
Route 4 etwa beginnt beim Karlsplatz. Hat man sich durch die Touristen geschlängelt, die gegenüber der Staatsoper gerade aus ihren Bussen aussteigen, findet man gleich danach an der Operngasse 4 eine erste Oase der Stille und die erste Station: ein überdachter Innenhof mit Loungemöbeln und – natürlich – einer weißen Jesusstatue, die zur Kontemplation einladen.
Vor der Augustinerkirche reißen Bagger gerade die Straße auf. Drinnen hingegen: Ruhe. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille – offenbar mit Erfolg. Rechts vorne, beim Altar der heiligen Rita von Cascia, ist ein großer QR-Code auf eine Tafel gedruckt. Der führt direkt zur dazugehörigen Website kirchbesuch.app, wo weitere Infos und kurze Videos warten.
Kirchenhopping
Weiter geht der Weg zur Kapuzinerkirche, die ein bisschen im Schatten ihrer prominenten Schwester, der Kaisergruft, steht. Dafür ist es hier oben ungleich heller als im Untergrund, im Kreise toter Habsburger. Und: Es gibt einen kleinen Bücherflohmarkt. Pilger lieben so etwas.
Klein und fein: Die Deutschordenskirche in der Singerstraße.
Auf der Reise durch die Stadt kommt man – selbst auf den kürzeren Routen – auch in Kirchen, an denen man sonst achtlos vorbeigegangen ist. So wie die Deutschordenskirche in der Singerstraße. Klein und fein und wie sich das für eine Wiener Innenstadtkirche gehört, mit uralten Grabsteinen an den Wänden.
Ein Mann sitzt in der ersten Kirchenbank. Er hat Kopfhörer auf und tippt auf seinem Laptop herum. Macht er hier Mittagspause? Nutzt er die Kirche als Homeoffice? Unklar. Sicher ist: Auch er schätzt wohl die Ruhe dieses Ortes.
Wer es bis hierher geschafft hat, ist dem Stephansdom schon ganz nah. Der Weg führt hinter dem Dom zur Carla am Stephansplatz, einem Secondhand-Shop der Caritas. Denn auch Pilger dürfen shoppen – vor allem, wenn es für den guten Zweck ist. Auch der Zwettler Hof am Stephansplatz, nur ein paar Schritte weiter, gehört zur Route. Müde Pilger können hier in „Mamas Café“ einkehren – und damit gleichzeitig alleinerziehende Mütter unterstützen.
Und dann hat man den Dom erreicht. Es wurlt wie immer, Menschen strömen hinein und hinaus. Und doch strahlen seine alten Mauern majestätische Ruhe aus. Der Routenplaner empfiehlt einen Besuch des Maria-Pócs-Altars, der sich rechts vom Haupteingang befindet. Einige beten, Kerzen flackern. Sonnenlicht fällt durch die pastellfarbenen Kirchenfenster. Und dann beginnen tatsächlich noch die Glocken zu läuten. Lourdes kann das auch nicht besser.
Draußen empfängt einen wieder die Realität des Stadtlebens: „Heast, bist deppert, oda wos?“, ruft ein erboster Wiener einem anderen zu. So etwas hört man am Jakobsweg sicher nicht.