Liebe im Wiener Gemeindebau: "Er hat mir Eislaufen beigebracht"
Es sind die Geschichten aus dem Wiener Gemeindebau, die das private Fernsehen nie erzählt, weil Krawall mehr Quote verspricht als Harmonie. Dabei taugt auch die Harmonie für eine interessante Erzählung.
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Herbert und Christiane Strobach haben am letzten herbstlich sonnigen Sonntagnachmittag des Jahres auf einer Parkbank in einem weitläufigen Hof ihrer „Siedlung“ Platz genommen. Die „Siedlung“, so die Pensionisten, war für sie immer nur „die Siedlung“. Sie befindet sich im Norden von Wien, links der Donau, rechts der Brünner Straße, dort, wo Floridsdorfs Bezirksteil Großjedlersdorf anfangs nur Arbeitern Quartier gab (die Bauern und Weinbauern wohnten und wohnen links der Brünner Straße, dort, wo die Heurigen locken).
Das Ehepaar erinnert sich an eine unbeschwerte Kindheit im Gemeindebau. An wenig Reichtum, viel Freiheit. Und an die Liebe.
Christiane: „Ich kenne ihn seit 69 Jahren. Er hat mir Eislaufen beigebracht. Er hat uns dann oft auch zu Hause besucht.“
Herbert: „Wir sind als Kinder in die Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg rein, und wir haben Kröten gefangen in der Donau-Au.“
Christiane: „Es gab in jedem Haus viele Kinder. Wir waren damals Hofkinder. Mit den meisten, die noch ‚da‘ sind, haben wir heute noch Kontakt.“
Herbert: „Die Freunde unserer Eltern aus dem Bau waren für uns ‚Wahl-Tanten‘ und ‚Wahl-Onkel‘. Dabei waren wir gar nicht verwandt mit ihnen.“
Christiane: „In der Wankläckergasse, die sehr lang war, parkten vielleicht drei, vier Autos. Und noch etwas: Wenn einer ein Auto gehabt hat, ist er für die anderen gratis gefahren.“
Herbert: „Die Bauern sind gekommen und mit einer Glocke durch unsere Höfe gegangen. Und die Frauen sind dann mit ihren Körberln runter, um bei ihnen einzukaufen.“
Christiane: „Dann sind die Fetzensammler in den Höfen aufgetaucht. Und die Musikanten haben mit ihren Geigen und mit der Harmonika bei uns aufgespielt. Wir Kinder durften ihnen ein paar Gröscherl, die in Papier eingewickelt waren, aus dem Fenster runterwerfen oder auch in ihre Taschen stecken.“
Herbert: „Ich war sehr gerne bei der Christiane zu Gast. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort in Sicherheit war. Über Politik hat man nicht so viel geredet. Manchmal hat es nur geheißen: ‚Der ist ein „Kummal.“ – Der ist ein Nazi, mit dem darfst’ nix reden.‘“
Früher als anderswo endete die Kindheit im Gemeindebau. Und das erwachsene Leben begann.
Zuerst war die Wohnungsnot. Im Kriegsjahr 1917 waren die Wohnverhältnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter in Wien von teuren und schlechten Wohngelegenheiten geprägt. 92 Prozent der Haushalte hatten kein eigenes Klosett, 95 Prozent keine Wasserleitung. „Die schlechte Wohnsituation hat die Stadt im Jahr 1918 dazu veranlasst, Gemeindebauten zu errichten“, sagt Historiker Peter Autengruber. Für die neue Auflage seines Buchs „Lexikon der Wiener Gemeindebauten“ (Wundergarten Verlag) hat er mit seiner Kollegin Ursula Schwarz ein Jahr lang die verschiedenen Gemeindebauten der Stadt besucht.
Der Superblock
Ein Wohnbauprogramm führte dazu, dass zwischen 1920 und 1934 61.175 Wohnungen entstanden. Vorangegangen ist dem eine lange Diskussion, bei der es darum ging, wie die neuen Bauten auszusehen hätten. „Superblock versus englisches Gartenstadtmodell“, sagt Autengruber. Sprich: kommunale Bauten oder idyllische Kleingartensiedlungen. Durchgesetzt hat sich schlussendlich der Superblock. Wodurch Wohnungen mit einer Durchschnittsgröße von 38 Quadratmetern und einer Raumhöhe von 2,80 Meter entstanden. Die Kosten für diese Wohnungen machten nur sechs bis acht Prozent eines durchschnittlichen Arbeitereinkommens aus, sagt Autengruber.
Nach dem „Anschluss“ stellten auch die Nationalsozialisten ein umfangreiches Wohnbauprogramm vor. Neben der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus den Gemeindebauten sollten in Wien 80.000 Wohnungen gebaut werden – tatsächlich errichtet wurden 2.000. 1941 wurde die Bautätigkeit kriegsbedingt ganz eingestellt.
Schnellbauprogramm
Nach dem Krieg waren 87.000 Wohnungen in Wien zerstört und rund 35.000 Menschen obdachlos. Ein Schnellbauprogramm sollte Abhilfe schaffen. Die Mindestgröße der Wohnungen wurde auf 55 Quadratmeter erhöht, alle Wohnungen erhielten ein Bad mit WC. Im Schnitt wurden in den 1960er-Jahren 9.000 Wohnungen pro Jahr gebaut. Im Jahr 2004 wurde der vorerst letzte Gemeindebau errichtet. Der gesamte geförderte Wohnbau wurde vom Gemeindebau zu gemeinnützigen Wohnbauträgern verlagert.
2015 begann die Gemeinde, neue Gemeindebauten zu errichten. Zwischen 60 und 70 Quadratmeter beträgt die Durchschnittsgröße mittlerweile, sagt Autengruber. Aber auch sonst hat sich einiges verändert: Die Zentralwäschereien und das Tröpferlbad sind verschwunden. Die Nachfrage aber bleibt weiter hoch.
Christiane: „Mein Vater war ursprünglich gegen eine Heirat. Er hat sich vorgestellt, dass ich mir noch etwas von der Welt anschaue, jedoch, es kam anders: Mit 19 habe ich mein erstes Kind bekommen und mit 21 das zweite.“
Herbert: „Geheiratet haben wir am 11. Mai 1967, auf dem Standesamt im Amtshaus Am Spitz, und am
10. Juni kirchlich in der Amtsstraße in Jedlersdorf. Die Hochzeitstafel war im Dorfwirtshaus, beim alten ‚Starkbaum‘.“
Christiane: „Im Dezember 1968 haben wir dann endlich unsere eigene Wohnung bekommen, auf der Stiege 1 im Parterre. Die hatte 56 Quadratmeter und war für uns und unsere einjährige Tochter so groß wie ein Palast. Es gab viele junge Paare mit Kindern. Alle haben sich gekannt und haben sich gegenseitig geholfen. So war zum Beispiel die Tochter unserer Hausmeisterin oft bei uns.“
Herbert: „Man hat einfach beim Nachbarn angeläutet, und dann hat man gemeinsam Zeit verbracht. Man hat sich auch immer beim Einkaufen getroffen.“
Christiane: „Der Herbert hat lange gearbeitet. Und als zweifacher Floridsdorfer Tennismeister hatte er viel zu trainieren. Was mich gestört hat, waren die älteren neugierigen Bewohner in unseren Höfen. Sie waren der Meinung, dass ich keinen Mann habe, weil sie ihn nur sehr selten zu Gesicht bekamen.“
Herbert: „Jeder hat damals ein Radio gehabt, aber kein Telefon. Trotzdem haben wir uns immer rechtzeitig getroffen.“
Noch ein Wort zu der – nie offiziell benannten – „Siedlung“ der Strobachs: Laut Recherchen der Wien-Museum-Historiker galt die weitläufige Anlage an der Siemensstraße mit ihren diversen ein-, zwei- und dreigeschoßigen Wohnhäusern und großzügigen Grünanlagen dazwischen schon bald nach ihrer Fertigstellung in den 1950er-Jahren als vorbildlich. Die Stadt Wien hat sie sogar bei einer Architektur-Ausstellung in New Delhi präsentiert. Herbert und Christiane Strobach erzählen auch das mit Stolz.
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