Kettner: "Flugscham? Der Tourist ist immer der andere. Er ist nie ich"
Wien ist ein gefragter Kongressstandort. In den nächsten fünf Jahren sind bereits 170 Meetings mit insgesamt 540.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fix gebucht. Bewerbungen liegen bis zum Jahr 2038 vor. Der boomende Sektor ist im Fokus von Wiens Tourismusdirektor Norbert Kettner. Der KURIER hat ihn nach der Wiener Tourismuskonferenz getroffen und mit ihm und Sherrif Karamat über die Bedeutung von Kongressen gesprochen. Der US–Amerikaner ist Präsident und CEO der Professional Convention Management Association (PCMA) und organisiert mit seinem Team weltweit drei Millionen Business Events pro Jahr.
KURIER: Wenn Sie an Wien denken: was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn?
Sheriff Karamat: Wie freundlich die Menschen sind. Man kann die schönste Architektur der Welt haben – aber Gebäude sind eben nur Gebäude. Menschen sind es, die eine Stadt ausmachen. Und das spürt man hier auf wunderbare Weise.
Dabei heißt es immer, in Wien seien alle unfreundlich.
Karamat: Das habe ich nicht erlebt.
Norbert Kettner: Wien taucht gleichzeitig in Rankings als freundlichste und unfreundlichste Stadt auf. Das sagt mehr über Rankings als über die Stadt, aber wir brauchen Rankings natürlich trotzdem.
Sie waren gestern beide auf einer Tourismuskonferenz. Welche Themen dominieren derzeit?
Karamat: Wien steht außergewöhnlich gut da – in einer internationalen Kongressstudie von 1.500 Städten liegt es auf Platz 1. Warum soll man also etwas ändern? Weil Veränderungen nicht in Stresssituationen passieren – dann treffen wir schlechte Entscheidungen. Man sollte sich verändern, wenn man an der Spitze steht, weil man dann die Kraft und die Möglichkeiten hat.
Kettner: Auf lokaler Ebene haben wir unsere neue Strategie präsentiert. Das zentrale Motiv ist: Wie bleibt eine mittelgroße Stadt in einem kleinen Land global relevant? Vieles spielt sich auf sehr praktischer Ebene ab, etwa die richtige Zielgruppe zu definieren. Kultur, Kongressgäste, Luxus, all das spielt hinein. Gleichzeitig ist es entscheidend, ein weltoffenes, kosmopolitisches Mindset zu bewahren. Städte sind Motoren der Entwicklung – mit all den Herausforderungen, die damit einhergehen.
Warum sind Kongresse und Business-Events heute so bedeutend?
Karamat: Es gibt viele Gründe. Aber einer der wichtigsten ist: Sie bringen eine Gemeinschaft zusammen. Sie schaffen wirtschaftliche Impulse – und für Städte oder Länder wie Österreich können Kongresse ein enormer Katalysator sein. Man denke an den Web Summit, an die Mobile World Conference oder Fintech-Konferenzen in Singapur: Sie haben ganze Regionen verändert.
Welche Rolle spielen diese Events für Wien?
Kettner: Es gibt natürlich unmittelbare wirtschaftliche Effekte, über eine Milliarde Euro an Wertschöpfung, viele Ganzjahresarbeitsplätze, auch außerhalb Wiens. Aber wichtiger ist für mich etwas anderes: der intellektuelle Durchzug. Frische Ideen wehen durch die Stadt. Ich möchte in einer Stadt leben, die nicht nur um sich selbst kreist. Wien hat eine lange Tradition darin. Denken Sie an den Wiener Kongress 1814, auf dem Europa neu geordnet wurde. Wenn Menschen zusammenkommen, entstehen Dinge, die bleiben.
Norbert Kettner: "Kongresse sollen nicht nur Wirtschaftseffekte hinterlassen, sondern nachhaltige Impulse"
Wien gilt als eine der weltweit führenden Kongressdestinationen. Von der Außenperspektive: Woran liegt das?
Karamat: Der wichtigste praktische Faktor für Kongresse ist: Erreichbarkeit. Kann man gut hinreisen? Wien ist hier hervorragend aufgestellt – Flughafen, Infrastruktur, öffentlicher Verkehr. Dann kommt Kultur. Dann kommen das Kongresszentrum, die Hotellerie, Restaurants, Museen. Wien bietet ein Umfeld, in dem Menschen gerne sind. Auch wichtig: Erfahrung. Wien hat ein starkes Team, das mit Universitäten, Politik und der Wirtschaft vernetzt ist.
Welche neuen Ideen entstehen aktuell in Wien?
Kettner: Wir arbeiten stark an „Legacy-Programmen“, die langfristige Wirkung in der Stadt entfalten sollen. Kongresse sollen nicht nur Wirtschaftseffekte hinterlassen, sondern nachhaltige Impulse: Projekte mit Schulen, Kooperationen mit medizinischen Verbänden, Wissensvermittlung. Wir entwickeln gerade eine Toolbox für Veranstalter und lokale Partner, damit solche Programme Standard werden.
Machen das andere Städte auch?
Kettner: Manche, ja. Aber Wien gehört sicher zu den Pionieren. Das Thema gewinnt weltweit an Bedeutung.
Karamat: Man sieht es bei Olympischen Spielen: Der nachhaltigste Effekt ist oft nicht ein Stadion, sondern ein Schwimmzentrum, das Kindern offen steht. Bei medizinischen Kongressen ist es Wissen, das Menschen ein gesünderes Leben ermöglicht. Solche immateriellen „Legacies“ sind immens wertvoll.
Sie setzen sich für Gleichstellung en. Dabei ziehen Kongresse oft ein privilegiertes Publikum an. Wie passt das zusammen?
Karamat: Ich finde, wir müssen unbedingt inklusiv sein. Auf vielen Kongressen gibt es heute Stipendien für junge Menschen. Unser eigener Verband vergibt über 200 pro Jahr. Wissenschaftliche Kongresse tun das Gleiche. Oberflächlich wirkt es exklusiv, aber in der Realität gibt es viele Programme, die gezielt junge und diverse Gruppen einbeziehen.
Wird es angesichts globaler Konflikte schwieriger, internationale Events zu organisieren?
Karamat: Die Welt war selten ruhig. Denken Sie an 9/11, SARS, die Finanzkrise. Jedes zweite Jahr gibt es politische oder wirtschaftliche Krisen. Aber: Wenn man Menschen zusammenbringt, schafft man Lösungen für komplexe Probleme. Ja, die Zeiten sind schwieriger. Aber genau dann braucht man Austausch, Innovation und neue Ideen.
Wien hat eine lange Tradition als diplomatische Stadt. Gilt das noch?
Kettner: Mehr denn je. Diplomatie wird manchmal belächelt, aber ihr Ziel ist immer gleich geblieben: Konflikte zu verhindern. Wien ist Sitz von rund 50 internationalen Organisationen und die einzige UN-Stadt der EU. Das prägt die Stadt und macht sie global relevant.
Karamat:"Wir müssen Lösungen entwickeln, nicht Begegnungen verhindern."
Ist es angesichts des Klimawandels noch vertretbar, zu Kongressen zu fliegen?
Karamat: Ja. Flugscham bringt uns nicht weiter. Wir müssen Lösungen entwickeln, nicht Begegnungen verhindern. Aber wir brauchen Veränderungen: Technologie, bessere Flugzeuge, nachhaltigere Systeme. Viele Airlines investieren enorm in nachhaltigere Flotten. Wir selbst haben Programme, die prüfen, wie jeder Teil der Wertschöpfungskette Emissionen senken kann.
Kettner: Ich mag den systemischen Ansatz. Man darf nicht isoliert denken. Städte müssen Infrastruktur schaffen, die Emissionen reduziert – wie Wien mit seinen U-Bahn-Linien oder Hochwasserschutzanlagen, Wie wichtig das ist, hat man vergangenes Jahr bei der Jahrtausendflut gesehen. Und zum Thema Flugscham: Ich komme aus einem nicht wohlhabenden Haushalt, Geld war immer ein Problem. Die Leute, die immer gesagt haben, dass Geld nicht alles ist, waren die Leute, die Geld hatten. So kommt es mir manchmal auch jetzt vor. Der Tourist ist immer der andere. Er ist nie ich. Denn wenn ich reise, entdecke ich die Welt. Die anderen sollen daheimbleiben. Es ist wie ein Klassenkampf, aber nicht von unten, sondern von oben.
Zum Abschluss: Was werden Sie nach ihrer Ankunft zu Hause über Wien erzählen?
Karamat: Meiner Familie werde ich sagen, dass sie unbedingt herkommen müssen. Die Stadt ist wunderschön, voller Kultur und Lebensqualität. Beruflich werde ich von der hervorragenden Infrastruktur berichten – und von den Möglichkeiten, die Wien für internationale Konferenzen bietet. Und eines muss man sagen: Ihr könnt wirklich Mehlspeisen machen!
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