"Die Staatsanwaltschaft war die Schreibstube der Polizei"
Zwölf Polizisten gegen eine Passantin: Der Vorfall in der Silvesternacht in Wien endete mit einer Anklage gegen die schwerverletzte 47-Jährige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (der KURIER berichtete), während ihren Misshandlungsvorwürfen gegen Polizisten nicht nachgegangen wurden. Ein Video, das nicht die Behörden, sondern die Betroffene auftrieb, zeigt Teile des Vorfalls.
KURIER: Wie geht es einem Menschenrechtsaktivisten, wenn er das Video des Vorfalls sieht?
Heinz Patzelt: Man wird jede Minute zorniger und fühlt sich in ein diktatorisches Chile versetzt. Mir ist eine Publikation über die Polizei aus den 80er-Jahren in den Sinn gekommen. Die hieß: "Die Prügelknaben der Nation."
Die Anklagebehörde hat vorschnell und einseitig agiert: Wie kommt das zustande?
Die Polizisten haben ab der ersten Sekunde Amtsmissbrauch begangen. Schon die Aufforderung zu einem Alkoholtest bei einer offensichtlich alkoholisierten Fußgängerin, die in der Nacht ein Brot (Anm., in einer Tankstelle) kauft, ist rechtswidrig. In der fünfzehn Seiten langen Anzeige der Polizei wird gelogen, getäuscht, getarnt und verleumdet. Was hier passiert ist, ist kriminell. Erschreckend ist die Unverfrorenheit: Da ist eine Prügelorgie unter den Augen einer Kamera passiert, von der jeder Polizist gewusst hat, dass es sie gibt. Dann wird so eine Lügengeschichte daraus.
Wie kommt es, dass eine Amtshandlung derart eskaliert?
Tätig am Morzinplatz (Anm., Tatort) war die Bereitschaftspolizei – eine bizarre Erfindung der Bundespolizeidirektion Wien mit dem bezeichnenden internen Namen "Kindersoldaten". Hier tut man etwas Wahnsinniges: Man steckt die unerfahrenen Absolventen der Polizeischule in eine Einheit für spektakuläre Festnahmen. Man setzt nicht die WEGA, die andere Probleme hat, aber exzellent ausgebildet ist, ein, sondern das Jungvolk, das keine Ahnung von der Praxis hat. Man bringt ihnen dort in einem Schnellsiede-Verfahren in sechs Monaten bei, wie Polizeiarbeit auszusehen hat. Das sieht man dann auf dem Video. Eine Gebot ist jetzt die blitzartige Auflösung der Bereitschaftspolizei.
Jeder, der versucht, die totale Fehlleistung der Staatsanwaltschaft zu verharmlosen, verkennt, dass es hier offensichtlich eine Komplizenschaft zwischen Staatsanwaltschaft Wien und Polizei gibt. Für einen Rechtsstaat ist das ein Skandal. Der Staatsanwalt hat im Verfahren eine aktive, umfassende Rolle. Hier ist das Gegenteil geleistet worden: Stinkfaul einerseits, tendenziös andererseits. Aus dem Polizei-Protokoll wurde eine Copy-and-Paste-Anklage gemacht. Es ist kein einziger Ermittlungsschritt gesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft war die Schreibstube der Polizei.
Im Vorjahr sind 1329 Personen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt worden. Sogar ein Justiz-Sektionschef kritisiert offen den Umgang mit dem Tatbestand.
Der einzige Unterschied dieses einen Falls zu vielen anderen ist, dass es hier eine umfassende Videodokumentation gibt. Die Beweis-Situation ist sonst für die Betroffenen verheerend. Vor Gericht wird einfach aufsummiert: Zehn Polizisten als Zeugen gegen die Angeklagte. Die hat dann einfach Pech gehabt.
Ist das ein Einzelfall?
Wer das glaubt, ist entsetzlich naiv. Das ist ein massives, seit Jahren bekanntes Strukturproblem. Man muss den Wiener Bürgermeister Michael Häupl zur Verantwortung rufen. Er hat eine sehr starke Rolle bei der Benennung des Wiener Polizeipräsidiums. Der Bürgermeister ist offenbar nach wie vor damit einverstanden, wie hier agiert wird.
Die Polizei will die größte Menschenrechtsschutz-Organisation sein. Ist sie das bereits?
In Wien ist sie davon Lichtjahre entfernt. Die Wiener Polizei kapselt sich zunehmend aus einem besser werdenden Polizeisystem ab. Es gibt das umfassende Projekt "Polizei macht Menschenrechte", das in den anderen acht Bundesländern langsam aber doch funktioniert. In den Bundesländern löst das keine Euphorie aus, aber es wird von der Führungsmannschaft in zäher Kleinarbeit in die Mannschaft getragen. In Wien gibt es dagegen ein eisernes Bollwerk.
Donnerstagabend hat sich der Wiener Vize-Polizeipräsident Karl Mahrer am Donnerstagabend in ORF-Wien-Heute gegen Misshandlungsvorwürfe gewehrt.
Mahrer zufolge ergibt sich aus dem Video, das die Frau selbst aufgetrieben hatte, "keinerlei Hinweis auf eine Misshandlung". Es liege "in der Natur des Rechtsstaates, dass jetzt nicht die Polizei überprüft, sondern eben Staatsanwaltschaft und das unabhängige Gericht. Wir werden unsere Lernprozesse daraus ableiten", sagte der Vize-Polizeipräsident.
Kritik übte Mahrer an der langen Dauer der Ermittlungen. Aber: "Die Dauer des Verfahrens lässt keinen Rückschluss zu, in welcher Form die Amtshandlung vor Ort abgelaufen ist." Wie zuvor schon Polizeisprecher Johann Golob verwies Mahrer darauf, dass bei durchschnittlich 230 bis 260 Misshandlungsvorwürfen pro Jahr nur sehr wenige zu Anklagen und Verurteilungen führen würden. Das liege "daran, dass Staatsanwaltschaft und Gericht feststellen, dass der Vorwurf nicht gerechtfertigt war". Mahrer: "Die Verletzung einer Person in einer Situation, in der ein Betroffener mit einem Polizisten in eine körperlich Auseinandersetzung kommt, bedeutet nicht automatisch, dass die Polizei rechtswidrig gehandelt hat, sondern oft das Gegenteil."
Pilz: Bürger vor Polizei schützen
Am Vormittag verlangte der Grüne Sicherheitssprecher Peter Pilz eine unabhängige Einrichtung, die im Fall von Anzeigen gegen Polizisten ermitteln soll. In dieser Institution sollten Juristen, Ärzte und Experten für Menschenrechte vertreten sein, sagte Pilz am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Wien.
Justizministerium und Anklagebehörde haben die Anklageerhebung gegen die Frau durch die Staatsanwaltschaft mittlerweile als "vorschnell" kritisiert. Pilz verlangt nun, dass dem zuständigen Staatsanwalt der Fall entzogen wird. "Wir müssen die Bürger vor der prügelnden Minderheit in der Polizei schützen", sagte der Sicherheitssprecher der Grünen.
Der Abgeordnete wirft Polizei und Anklagebehörde Komplizenschaft vor und zählte eine Reihe von Fällen auf, in denen ebenfalls schuldlose Menschen zu Opfern von Polizeiübergriffen geworden seien und womöglich noch wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angezeigt wurden. In einem Fall im Jahr 2011 sei ein Diabetiker, der sich wegen Ruhestörung beschwert hätte, stundenlang nackt eingesperrt worden - trotz seines Hinweises, dass er Medikamente benötige. Zuletzt sei der Zuckerspiegel des Mannes auf ein lebensbedrohendes Niveau gestiegen.
Einem an Blasenkrebs leidenden Zeugen eines Streits bei der Meisterschaftsfeier der Austria Wien im Mai 2013 sei eineinhalb Stunden lang der Toilettenbesuch verweigert worden, ehe er mit der Ankündigung entlassen wurde, eine Anzeige zu erhalten. Zuvor seien er und drei weitere Zeugen der Auseinandersetzung, bei der fälschlich ein Streitschlichter festgenommen worden sei, von der Polizei grob beschimpft worden.
Ermittlungen polizeiintern geführt
Schauplatz beider Fälle war nach Angaben von Pilz die Polizeiinspektion Deutschmeisterplatz. Er habe nach einer Sitzung des Innenausschusses im April 2014 eine Reihe von ihm dokumentierter Fälle an Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und den Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Konrad Kogler, für interne Ermittlungen übergeben - mit exakter Darstellung des Sachverhalts, aber ohne die Namen der betroffenen Bürger, da nicht garantiert worden sei, dass gegen diese keine Verfahren eingeleitet würden, sagte Pilz. Bei den Ermittlungen sei laut Kogler nichts herausgekommen, sagte der Sicherheitssprecher der Grünen.
Die Ermittlungen seien zwar im Auftrag der Justiz, jedoch polizeiintern geführt worden, bemängelte Pilz. Er urgiert für Fälle mit schwieriger Beweislage die Beteiligung eines Staatsanwalts bei den zeitnah durchzuführenden Befragungen. Dies sei in einem auf der Anti-Folter-Konvention der UNO basierenden Erlass des Justizministeriums vorgesehen, aber "es passiert nicht", sagte der Grün-Politiker.
Kritik übte Pilz auch am Korpsgeist innerhalb der Polizei. Er verlangt, dass auch Mitwisserschaft mit Sanktionen verbunden sein sollte und zitierte Zeugenaussagen, wonach Polizisten am Deutschmeisterplatz von älteren Beamten mit den Worten "Hört's auf mit dem Blödsinn" zwar zur Änderung ihres Verhaltens aufgefordert worden seien. Weitere Folgen habe es nicht gegeben.
Kommentare