Gibt es ein neues Wienerisch?
Gemma Mille?“, fragt der junge Wiener seine Freundin und deutet in Richtung des Millennium Towers. „Siehst du nicht, dass ich gerade mit Michi rede“, antwortet seine Freundin, beendet aber ihr Gespräch mit „Tschüss!“ Das Wienerische, einst für Außenstehende eine rätselhafte, von den Regeln der Duden-Rechtschreibung nur wenig angekränkelte Sprache, gleichsam ein „gemischter Satz“, ist im Wandel.
Zum einen, weil der als primitiv verschriene Mundl-Dialekt nur noch von Teilen der älteren Generation gesprochen wird, stellt der Germanist Manfred Glauninger fest. Wiener, die „pomali“ (langsam, Anm.) unterwegs sind, „auf lepschi“ gehen (jedenfalls etwas besseres zu tun haben als arbeiten, Anm.) oder „auf Luft“ sitzen (unschuldig sind, Anm.) und dies auch öffentlich kundtun, werden immer seltener.
Vor Beginn der „Bayerisch-Österreichischen Dialektologentagung“ in Wien (bis Samstag) werden auch andere Einflüsse diskutiert. Die Neo-Österreicher beeinflussen die Sprache ihrer neuen Heimat. Es sind nicht nur einzelne Worte wie „Tschüss“ oder „Jungs“, die mittlerweile gang und gäbe sind.
Zuwanderer-Sprech
Auch die Grammatik des Dialekts hat sich durch die neuen Österreicher verändert, erläutert Glauninger. „Das wurde von der Dialektforschung lange nicht beachtet, weil es nicht so auffällig ist wie einzelne Worte.“ Schon gehört? Pseudotürkisches wie „Ich fahre Stephansplatz“ und „Her mit Ball“. Gemeint ist im ersten Fall die U-Bahn-Station, der man aber die Präposition „nach“ verweigert. Zum anderen kommen Substantive, egal ob es sich um Gebrauchsgegenstände oder Vornamen handelt, immer öfter ohne Artikel daher.
Das sei, sagt Glauninger, vermutlich dem Einfluss der Zuwanderer geschuldet. Im Norddeutschen sei es zum Beispiel üblich zu sagen: „Gestern habe ich Michi (und nicht die Michi, Anm.) getroffen“. Ein anderes Beispiel steuert der Dialektforscher Ludwig Maximilian Breuer bei: „Der Wiener sagt, wenn er zum Bankomaten geht: ,Ich hebe ein Geld ab.‘“ Heute überwiegt häufig das standardsprachliche korrekte „Ich muss Geld abheben“ ohne unbestimmten Artikel. „Jugendliche in Wien versuchen möglichst nah am "Hochdeutschen" zu kommunizieren“, sagt Glauninger.
Einige für die Alltagskommunikation des Wieners unersetzliche Vokabeln wie „Oida“, „leiwand“ und „bist deppat“ sind auch bei Jugendlichen in Verwendung. Man findet diesen „Dialekt 2.0“ in Chatrooms und in SMS. „Das ist kein authentischer Dialekt, denn Dialekt wird immer gesprochen.“ Die Gleichzeitigkeit der Kommunikation in den Neuen Medien sorgt aber für ein Phänomen, dass man in der Sprachwissenschaft „geschriebene Mündlichkeit“ nennt. Glauninger, bildhaft: „Der Daumen ist die Zunge. Die User glauben, sie sprechen miteinander.“
Wie konnte es so weit kommen? Zum einen ist Sprache immer im Wandel. „Der Wiener Dialekt ist speziell massiv von Fremdsprachen geprägt, früher gab es starke jiddische (z. B. Ponem = Gesicht) und tschechische (etwa Pfrnak =Nase) Einflüsse“, sagt Glauninger. Zum anderen ist das Zurückdrängen des Dialekts ein gesellschaftliches Phänomen. „Es wird kein neuer Dialekt mehr entstehen. Sie werden in Wien kaum Eltern finden, die mit ihren Kindern Dialekt reden. Dialekt stigmatisiert. Sie können ein- und dieselbe Person auf Hochdeutsch und in Dialekt reden lassen. Der Zuhörer wird Menschen, die Dialekt sprechen fast immer negativer betrachten.“
Andererseits: Schon vor 200 Jahren fürchteten die Intellektuelle und
Sprachwissenschaftler um die Mundarten. Die Sorge war groß, dass die typisch dialektalen Eigenheiten verschwinden. „Eine stark übertriebene Vorstellung.“
Auch jetzt ist es noch verfrüht, das Ende der österreichischen Mundarten auszurufen. Außerhalb Wiens, in den sprachlich „archaischen“ Gefilden Tirols und Kärntens etwa, gehöre Dialekt zum guten Ton. Auch bei der Jugend.
So schimpfen die Wienerinnen und Wiener
Ab Mittwoch wird bei der Wiener Wiesn bayerische Gemütlichkeit gefeiert. Warum auch nicht, Österreicher und Bayern teilen sich eine gemeinsame sprachliche Vergangenheit, in beiden Ländern werden bairische Dialekte gesprochen. Feine Unterschiede bestehen freilich. Wenn sich der Hofstädter in Wien wieder was erlaubt, formt er diesen Relativsatz: „Fleisch, das was zu 100 Prozent aus Österreich ist“. Ein Reklame-Spruch in Bayern würde hingegen Fleisch bewerben, „das wo“ zu 100 Prozent aus Bayern ist.
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