Der Kriminalfall Wilhelminenberg

Das Schloss Wilhelminenberg - heute ein Hotel, prägte es einst als Kinderheim das Schicksal Tausender Wiener Kinder
Der Staatsanwalt ermittelt. Das Vorverfahren im Landesgericht Wien gegen ehemalige Erzieherinnen hat begonnen.

Vorbereitung auf einen Prozess gegen Erzieherinnen des 1977 geschlossenen Kinderheims am Wiener Wilhelminenberg sind am Laufen. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren mit 16 Beschuldigten.

Vergangenen Mittwoch wurden die Vernehmungen am Wiener Landesgericht fortgesetzt; und der Schreiber dieser Zeilen des Verhandlungssaales verwiesen. Kurioserweise aber erst nach der via Video übertragenen (so genannten kontradiktorischen) Stellungnahme eines ehemaligen Heimkindes.

"Solche Geschichten..."

Zuvor haben vier Beschuldigte den Verhandlungssaal 210 im Landesgericht betreten. „Die kann sich net amal erinnern, wann sie im Heim war und erfindet solche Geschichten“, weiß Gerlinde R., 71, eine der Beschuldigten, schon vor Verhandlungsbeginn über jene Frau, die als Zeugin auftreten wird.

Rauswurf

Gerlinde R. und ihre drei Sitznachbarinnen haben eine gemeinsame Vergangenheit: Sie waren in den 1960er- bzw. 70er-Jahren Erzieherinnen im Kinderheim Wilhelminenberg. Am Mittwoch teilten sie sich eine Bank im Gerichtssaal. Über den weiteren Ablauf muss leider aus rechtlichen Gründen der Mantel des Schweigens gebreitet werden, weil die Einvernahme nicht öffentlich war. Darauf wurde der einzige Gast (und Journalist) im Saal erst nach rund einer Stunde vom Richter hingewiesen und musste den Saal verlassen.

Das ehemalige Kind vom Wilhelminenberg, eine 57-jährige Frau aus Wien, stand dem KURIER nach der Verhandlung Rede und Antwort und schilderte im Beisein ihrer Psychotherapeutin, was sie vor allem Erzieherin Gerlinde R. vorwirft: „Wenn man gelogen hat, hat sie einen ins Waschbecken getaucht. So lange, bis man keine Luft mehr bekommen hat. Immer und immer wieder.“

Gerlinde R., bekannt als „Schwester Linda“, habe sie an den Haaren vom Stockbett heruntergezogen, sodass sie auf den Rücken geknallt sei. Ihre extremen Rückenbeschwerden führt die 57-Jährige auf die Zeit am Wilhelminenberg, wo sie neun Jahre ihrer Kindheit verbrachte, zurück. An Misshandlungen anderer Erzieherinnen könne sie sich nicht erinnern.

Dank und Anerkennung

Vor allem gegen Gerlinde R., die 1988 mit Dank und Anerkennung in den Ruhestand geschickt worden ist, gibt es massenhaft Vorwürfe ehemaliger Heimkinder.

So sagte Eva L. (Name von der Redaktion geändert), die im Herbst vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt hat: „Die Schlimmste, die Linda, hat auf jeden Fall davon gewusst, dass wir vergewaltigt wurden.“ Ihre Schwester schildert, dass Kinder von Linda mit nassen Handtüchern verprügelt wurden.

Vergewaltigung und Brutalität

Judith L. wiederum, die am kommenden Mittwoch aussagen wird, sagte im KURIER: „Wir wurden hauptsächlich von Linda aus dem Zimmer geholt und dann von Männern vergewaltigt.“ Jutta H., die am Dienstag ihre Aussage macht, meint: „Ich würde Linda fragen, was sie empfunden hat, was man da einem Kind angetan hat, ob sie kein Herz im Leib hat. Jetzt heißt es nur, ,es ist verjährt‘. Nicht nur die Vergewaltigungen, auch die Brutalität: Wir wurden geschlagen, eingesperrt, ins Wasser getunkt.“

Nach den nächsten Einvernahmen wird die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob es zu einem Prozess kommt. Während Anwalt Erich Schillhammer davon ausgeht, dass die Suppe für ein Verfahren zu dünn ist (siehe unten), hofft Opfer-Anwalt Johannes Öhlböck, die Verjährungsfrist durch die Aussagen der Betroffenen zu Fall zu bringen.

Gerlinde R. wies bereits vor zweieinhalb Jahren im KURIER alle Vorwürfe zurück.

KURIER: Herr Dr. Schillhammer, wie sehen Sie das Wilhelminenberg-Verfahren?
Ernst Schillhammer: Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren sehr sorgfältig vorbereitet. Es gibt sehr viele kontradiktorische Einvernahmen.

Der Kriminalfall Wilhelminenberg
APA2577214-2 - 09072010 - WIEN - ÖSTERREICH: ZU APA-TEXT CI - Rechtsanwalt Ernst Schillhammer, aufgenommen am 10.Dezember 2007 in Wien. Im Fall der in der Auhofstraße in Wien-Hietzing erstochenen und zerstückelten Stefanie P. vertritt Schillhammer den mutmaßlichen Täter, Philipp K. (Archivbild). APA-FOTO: GEORG HOCHMUTH

Die Opfer können sich meist nur mehr sehr grundsätzlich an Dinge im Kinderheim erinnern. So können sie sich kaum noch an Namen erinnern und einzelne Geschehnisse nur mehr sehr rudimentär wiedergeben.

Inwieweit spielt die Verjährung von Straftaten eine Rolle?
Die Handlungen, die bisher geschildert wurden, wären schon verjährt. Dass es am Wilhelminenberg Handlungen mit Todesfolge gegeben hätte – hier würde es unter Umständen keine Verjährungsfristen geben – dafür gibt es keine wie auch immer gearteten Anzeichen.
Das heißt, es wird keine Verurteilungen geben?
Da konkret keine Handlungen mit Todesfolge genannt wurden, ist aus meiner Erfahrung davon auszugehen, dass es zu keinem Hauptverfahren kommt.

Wie geht es Ihnen persönlich mit den oft sehr nahegehenden Schilderungen der ehemaligen Heimkinder?
Als Strafverteidiger, Staatsanwalt oder Richter ist man oft in der schwierigen Situation, dass man ja auch Mensch ist, dem solche Dinge nahe gehen. Aber man hat auch eine professionelle Aufgabe. Und diese Aufgabe ist es hier, die Funktionen, die das Gesetz zuschreibt, verantwortungsvoll zu erfüllen.

16. Oktober 2011: In einem ausführlichen KURIER-Interview schildern zwei ehemalige Heimkinder des Kinderheims Wilhelminenberg grausame Behandlungsmethoden und jahrelangen sexuellen Missbrauch in den 1970er-Jahren.

18. Oktober 2011: Die damalige Erzieherin „Schwester LindaGerlinde R. weist im KURIER-Gespräch sämtliche Vorwürfe zurück.

20. Oktober 2011: In den vier Tagen nach dem ersten KURIER-Bericht haben sich 150 weitere Betroffene von Gewalt in Wiener Kinderheimen bei der Hilfsorganisation Weisser Ring gemeldet.

21. Oktober 2011: Die Stadt Wien gibt als ehemalige Betreiberin des Heimes die Gründung der Kommission Wilhelminenberg unter dem Vorsitz der Richterin Barbara Helige bekannt.

31. Oktober 2011: Das für dieses Datum geplante Ende der Meldefrist für Opfer von Misshandlungen in Heimen wird von der Stadt Wien auf unbestimmte Zeit aufgehoben.

17. Februar 2012: Die Stadt Wien erfüllt eine jahrelange Forderung der Kinder- und Jugendanwaltschaft - ein eigener Ombudsmann für betreute Kinder und Jugendliche wird beschäftigt.

20. Juni 2012: Der Sozialhistoriker Reinhard Sieder, der im Auftrag der Stadt über die Wiener Heimerziehung geforscht hat, spricht bei der Veröffentlichung seines Berichtes von einer „nationalen Katastrophe“.

27. Juli 2012: Die Stadt Wien verkündet, künftig keine Kinder mehr in bestehende Heime schicken zu wollen. Der Vertrag mit dem letzten Heim in Stiefern am Kamp, NÖ, läuft im Sommer 2014 aus.

12. Juni 2013: Der Endbericht der Kommission Wilhelminenberg wird präsentiert. Vielfacher sexueller Missbrauch und Gewalt im Heim Wilhelminenberg werden bestätigt, Namen mutmaßlicher Täter werden der Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Fast 2000 ehemalige Heimkinder haben mittlerweile bei der Stadt Wien um Unterstützung angesucht.

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