Die Geschichte des Mistkübels: Die „Colonialisierung“ von Wien

Die Geschichte des Mistkübels: Die „Colonialisierung“ von Wien
Unrat, Staub und schmutziges Wasser: Um die Jahrhundertwende waren große Anstrengungen nötig, um die Stadt sauberer zu machen. Eine Zeitreise in die Ära der Strotter, Stierler und Mistbauern

Wissen Sie, was ein Ritzenschieber ist? Man kennt ihn auch als Gleisböhm. Oder, etwas umständlicher, als Tramwayschienenritzenkratzer.

Ritzenschieber waren einst wichtig, um das Vorankommen in Wien zu ermöglichen: Sie befreiten die Straßenbahnschienen von allerlei Unrat, etwa vom Mist Tausender Pferde. Oft nannte man die ungelernten Arbeiter „Gleisböhm“, da viele aus Böhmen stammten. Als das Säubern ab den 1950ern maschinell erledigt wurde, starb der Beruf aus.

Die Reinigung einer Metropole war und ist eine aufwendige Angelegenheit. Heute gilt Wien als eine der saubersten Städte der Welt – doch wie war die Situation um die Jahrhundertwende?

Hausmüll und Nachttöpfe

Um 1900 lebten nicht nur zwei Millionen Menschen in der Stadt, sondern schätzungsweise auch 100.000 Pferde. Hausmüll oder der Inhalt von Nachttöpfen landete auf den Straßen. Die Luft war enorm staubig und Gewässer wie der Wienfluss wurden bei nierigem Wasserstand regelrecht zur Kloake.

„Man unternahm enorme Anstrengungen, Wien sauberer zu machen“, erklärt Christian Stadelmann, Kurator im Technischen Museum. Straßenkehrer, meist schlecht bezahlte Tagelöhner, gab es schon lange. Besser wurde die Situation, als ab den 1870er-Jahren auch von Pferden gezogene Straßenkehrmaschinen unterwegs waren.

Die Geschichte des Mistkübels: Die „Colonialisierung“ von Wien

Straßenreinigungsgerät 1900 bis 1925. Wien, Technisches Museum

In der Luft lag damals vor allem: Staub. „In Paris oder Berlin wurde schon früh Asphalt verwendet, Wien aber war eine Pflasterstadt“, so Stadelmann. Der zunehmende Verkehr und das Aufkommen des Automobils schädigten die Pflastersteine – dabei wurde auch viel Staub aufgewirbelt.

Zu jener Zeit wütete die Tuberkulose so heftig, dass sie auch "Morbus Viennensis“„ genannt wurde. „Man fand heraus, dass Tuberkulosebakterien wohl über Staub übertragen werden“, erklärt Stadelmann. Daher schickte die Stadt Sprengwägen aus, die Straßen drei bis sechs Mal täglich bewässerten, um den Staub zu binden.

Die Geschichte des Mistkübels: Die „Colonialisierung“ von Wien

Mistkübel in allen Größen und Formen im Technischen Museum  

Durchfall und Cholera

Aber auch die Wasserqualität ließ sehr zu wünschen übrig. Brunnen lagen oft zu nahe bei Senkgruben, Abwässer landeten in Donaukanal und Wienfluss. Reisende wurden vor Durchfallerkrankungen in Wien gewarnt und immer wieder brach die Cholera aus.

Bis 1873 die erste Hochquellwasserleitung in Betrieb ging, die sauberes Wasser brachte. „Die hygienischen Standards sind enorm gestiegen“, so Stadelmann. In Zinshäusern wurden pro Stock eine Bassena und ein WC eingebaut. Weniger Nachttöpfe hieß auch: Deren Inhalt landete nicht mehr auf den Straßen. Und auch die Cholera brach nicht mehr aus.

Mistbauern als Müllabfuhr

Eine andere Herausforderung war der Hausmüll. Ab dem 19. Jahrhundert fuhren Mistbauern durch die Stadt, um den Kehricht abzuholen. Glöckchen kündigten ihr Kommen an – quasi die damalige Müllabfuhr. Der Mist hatte für die Mistbauern durchaus noch einen Wert: Aus Asche konnte man Seife machen, aus Talg Kerzen, aus Lumpen Papier. Was die Mistbauern nicht verwerten konnten, landete auf Deponien am Stadtrand.

Aus diesem Grund zogen auch die Miststierler durch die Stadt: Arme, die im Müll nach Verwertbarem suchten, um über die Runden zu kommen. Daneben gab es auch die Strotter: Die suchten vor allem in den Kanälen nach Metallresten, Knochen oder Fett.

Die Revolution

Ein entscheidender Fortschritt war der Umstieg auf das Coloniasystem. Vorbild waren Mistkübel, wie sie im deutschen Köln im Einsatz waren: oben vierkantig, unten rund, dazu ein schwenkbarer Deckel, der das Austreten von Staub beim Ausleeren verhindert. 

Schon 1918 gab es die ersten Modelle in Wien. „Ab den 1920er-Jahren waren sie flächendeckend im Einsatz“, so Stadelmann. Sammelzüge fuhren fortan durch die Stadt und sammelten so den Hausmüll. Einziger Nachteil: Die Kübel waren schwer. Ab den 70er-Jahren wurden sie durch Kunststofftonnen ersetzt.

Auch wenn sie heute meist Restmülltonnen genannt werden, haben der Coloniakübel, der Coloniaraum (Müllraum) und der Coloniawagen (Müllwagen) im Sprachgebrauch vieler Wiener überlebt.

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