Zwischen Advent und Krieg: 4 Ukrainerinnen in Wien
Weihnachten zu Hause? Man hört plötzlich kein Wort mehr im Besprechungszimmer der KURIER-Redaktion: Die vier Geflüchteten aus der Ukraine suchen Blickkontakt zueinander. Ihre Stille ist zugleich ein Nein. Es fließen Tränen.
Die Rechtsanwältin, die Kulturmanagerin, die Psychologin, die Politologin: Alle vier mussten ihre Heimat aufgeben, leben heute in Wien, nehmen sich vor Weihnachten Zeit für ein Gespräch.
Aufräumarbeiten nach einem russischen Drohnenangriff mit einer Shahed-Drohne auf die ukrainische Hauptstadt.
Angriff auf ihre Tochter
Alle vier haben viel über sich ergehen lassen müssen. Sie sind traurig, aber zugleich entschlossen: Ihre Ukraine werde sich niemals ergeben!
Nataliia Kyriukhina weiß genau, wovon sie spricht. Die Psychologin aus Dnipro kam im März 2022 nach Wien. Sie hat hier zig Landsfrauen betreut. Viele sind in derselben Situation wie sie: „Mein Mann ist seit Kriegsbeginn an vorderster Front. Ich habe ihn in den vergangenen vier Jahren nur vier Mal gesehen, nie länger als vier, fünf Tage.“
Erste Hilfe für dieses ukrainische Mädchen: Nach einem russischen Angriff auf eine Schule in Saporischija.
Nataliias Kinder, ihre Tochter ist inzwischen 18, ihr Sohn zwölf, sprechen perfekt Deutsch. Doch mit jedem Tag länger im Wiener Exil wächst ihr emotionaler Abstand zu dem Land, das ihr Vater als Soldat hochriskant verteidigt.
Er bekommt zum Jahreswechsel keinen Urlaub. Zudem sind Putins Raketen- und Drohnenangriffe derzeit noch massiver als sonst. So wie viele Familien sind daher die Kyriukhinas auch dieses Jahr voneinander getrennt.
Mehrfach von russischen Granaten getroffen: Das zentrale Kiewer Kinderspital Okhmatdyt.
Abschied von Facebook
„Man kann sich nirgendwo in der Ukraine halbwegs sicher fühlen“, sagt auch Anastasiia Zernova. Die Top-Anwältin erzählt dann vom vielleicht dunkelsten Tag ihres Lebens: „Meine Tochter war elf, als man uns im Kinderspital Okhmatdyt mitgeteilt hat, dass sie vielleicht Krebs hat.“
Eine klärende Blutuntersuchung war für Donnerstag, den 24. Februar 2022, um 9 Uhr, anberaumt. Was für ein Tag! Nur vier Stunden zuvor detonieren in Kiew die ersten Bomben. Während viele aus der Stadt flüchten, fährt eine besorgte Mutter mit ihrem Kind in ein zentral gelegenes Spital, das in den Tagen danach von russischen Bomben mehrfach getroffen wurde.
Ihre Tochter hat überlebt, ist heute 14, geht in Wien zur Schule. Das ändert nichts an der Forderung von Anastasiia Zernova: „Gerechte Strafe für all jene, die uns brutal überfallen haben.“ – „Und dazu den vollen Respekt für jene, die weiter in den Spitälern unseres Landes dienen.“
Nächtlicher Drohnen-Angriff auf Kiew: „248 wunderbare Menschen aus dem Kulturbereich sind unschuldig ums Leben gekommen."
Die Kulturmanagerin Kseniya Kharchenko stimmt ihr zu. Sie hat vor dem Krieg, den die Nachbarn begonnen haben, in einem Verlag in Kiew gearbeitet: „Ich habe miterlebt, wie unser Land, nachdem es 1991 unabhängig wurde, langsam aufblühte.“
Seit Februar 2022 blühe nichts mehr in der Ukraine, im Gegenteil: „248 wunderbare Menschen aus dem Kulturbereich sind unschuldig bei russischen Angriffen ums Leben gekommen. Manche kannte ich persönlich.“
Kseniya Kharchenko hat inzwischen die Facebook-App von ihrem Handy gelöscht: „Weil du die Flut an schrecklichen Nachrichten auf Dauer nur schwer ertragen kannst.“
Provisorisches Denkmal neben eines schwer beschädigten Wohngebäudes in Ternopil im Westen der Ukraine.
Oleksandra Demianenko, die an einer Universität in der Nähe von Kiew Politikwissenschaften unterrichtet hat, erinnert an die Schizophrenie zwischen Krieg und Frieden: „Ein Bekannter hat bei einem Besuch in Wien immer wieder zum Himmel hinauf geschaut, weil er in der Ukraine schon lange kein ziviles Flugzeug mehr fliegen sah.“
Dann äußert sie ihren „sehnlichsten Wunsch“ zur Weihnachtszeit: „Gar nichts Materielles, aber ich wünsche mir, dass die rund 20 Millionen Ukrainer, die heute im Exil leben, ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Religion nicht aufgeben. Denn dieser Krieg ist auch ein Angriff auf unsere Identität.“
Hilfreich könnte dafür auch eine Schule in Wien sein, in der Ukrainisch unterrichtet wird, sagt Oleksandra Demianenko. „An gut ausgebildeten muttersprachlichen Lehrern und Lehrerinnen mangelt es hier nicht.“
So wie die Menschen in der Ukraine werden die vier Frauen mit ihren Familien am 25. Dezember Weihnachten feiern, und nicht wie früher laut russisch-orthodoxem Kalender am 6. Jänner.
Der Tod nähert sich in der Ukraine leise-surrend auch zivilen Zielen.
Eine gute Nachricht
„Für uns Ukrainer gibt’s dazu keine Diskussion mehr“, betont die Psychologin Nataliia Kyriukhina.
Wenige Tage vor Weihnachten erfährt sie, dass sie ihre Arbeit, die für viele Landsfrauen sehr hilfreich ist, beim privaten Verein T. I. W. ein weiteres Jahr fortsetzen kann. Eine deutsche Stiftung übernimmt dafür die Kosten, springt dort ein, wo die öffentliche Hand hierzulande bisher abgewunken hat.
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