"Ich habe den Super-GAU überlebt"

"Ich habe den Super-GAU überlebt"
Boris Iwanowitsch Derkatsch war als Liquidator 1986 unmittelbar der Strahlung ausgesetzt.

Ich treffe meine Kameraden von damals nur noch auf Begräbnissen. Aus meinem Ort wurden damals 58 Männer einberufen – 35 davon haben wir seither begraben“, erzählt Boris Iwanowitsch Derkatsch. Er spricht ruhig und bedacht, seine Wangen glühen rötlich, fast gesund. Kaum zu glauben, dass er nach dem verheerenden Unfall im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl 17 Tage lang darum gekämpft hat, Schlimmeres zu verhindern.

27. April 1986: Als damals 34-jähriger Soldat wurde er in einer Nacht- und Nebel-Aktion einen Tag nach der Katastrophe in sein Militärkommissariat gerufen. „Wir wussten nicht, dass etwas passiert ist. Wir haben eine Uniform bekommen und sind zu einem Zeltlager etwa vier Kilometer vom Reaktor gefahren.“ Dort luden die Männer von früh bis spät eine Mischung aus Blei, Dolomit, Sand und Lehm in einen Schirm, die mithilfe von Hubschraubern über dem Reaktor abgeworfen wurde, um ihn zuzuschütten und die Temperatur zu senken.

„Die Hubschrauber haben ständig den radioaktiven Staub über uns verteilt. Wir hatten keine Schutzanzüge. Radioaktivität ist nicht spürbar – du kannst sie nicht riechen oder fühlen, du hast nur einen komischen Geschmack im Mund.“

Geschwüre

Derkatsch sah auch jene Männer, die schon am ersten Tag am Einsatzort waren – Feuerwehrmänner und Mitarbeiter des AKW. „Ihre Haut war voller Geschwüre, es gab keine schmerzstillenden Tabletten. Wir konnten Ihnen beim Leiden und beim Sterben nur zusehen.“ Ob er Angst hatte? „Wenn man nicht weiß, was passiert ist, hat man keine Angst. Die Situation war so ein Stress für unseren Organismus, dass wir gar keine Zeit hatten, darüber nachzudenken. Wir haben verstanden, dass hier schreckliche Dinge passieren und wollten nur so schnell wie möglich fertig werden, um nach Hause fahren zu können.“ In der zweiten Woche bekamen sie zum Schutz Atemmasken und Kalium-Jodid-Tabletten. Das Zeltlager wurde einige Kilometer vom Reaktor wegverlegt.

Telegramm

Zu Hause warteten auf Derkatsch seine Frau und seine Familie, doch er durfte sie nicht anrufen. „In Europa wusste man, was passiert ist. Aber bei uns war Nachrichtensperre. Die Regierung wollte die Katastrophe vor der Bevölkerung vertuschen. So einen Super-GAU kann man aber nicht verheimlichen.“ Was er durfte, war, seiner Frau ein Telegramm zu schicken: „Ich bin gesund und munter. Alles Gute, Boris.“ Doch das Telegramm kam erst an, als Derkatsch wieder heil zu Hause war.

Einen Monat nach seiner Heimkehr spürte er ein Geschwür im Hals, kurz darauf versagte seine Stimme. „Ich hatte bei meinem Einsatz ein radioaktives Teilchen eingeatmet oder mit dem Essen zu mir genommen, das in die Speicheldrüse geraten ist.“ Das Geschwür konnte entfernt, seine Stimme gerettet werden.

Ob er noch oft an seine Zeit im Zeltlager zurückdenkt? „Ja, jedes Mal, wenn wir einen Kameraden begraben. Die meisten sind an Krebs gestorben oder hatten etwas mit dem Herzen.“ Auch das Fukushima-Unglück hat die Überlebenden wieder an einen Tisch gebracht: „Wir waren uns einig, dass das Unglück in Japan ein zweites Tschernobyl ist.“

91 Leben

In Erinnerung an die ersten zwei Gruppen von Liquidatoren in Tschernobyl hat Derkatsch vor einigen Jahren den Verein Sonderbataillon 731 gegründet – 731 Männer, die eine thermische Kernexplosion verhindert haben. 91 davon sind noch am Leben.

„Ich weiß nicht, ob unsere Regierung den Reaktor mit dem Leben von Menschen bedeckt hat, aber wenn wir diese Arbeit nicht gemacht hätten, wären noch viel mehr Menschen gestorben. Meine Familie hat unweit des Reaktors gelebt – jeder in dieser Situation würde das machen, um seine Familie, sein Land und das Volk zu retten.“

Sie war damals elf Monate alt: „Meine Eltern gingen mit mir spazieren, auch bei Regen. Die Bevölkerung wurde über die Gefahren in der Umwelt und in der Ernährung lange nicht informiert.“ Die Folgen des unbeschwerten Lebens während der Katastrophe spürte das Mädchen elf Jahre später, sie wurde krank. Diagnose: Leukämie.

„Das war fünf Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion und wir hatten kein Geld. Wir haben uns über Tauschhandel ernährt – eine Therapie konnten wir uns nicht leisten“, erzählt die heute 28-Jährige. Unter den damaligen Umständen infizierte sich Lidiya bei einer Bluttransfusion auch noch mit Hepatitis B. „Mein Vater hat vielen Anlaufstellen und Zeitungen geschrieben, um Geld zu sammeln.“ In einer Klinik, die von Global 2000 unterstützt wurde, erhielt sie schließlich die rettende Therapie. In dieser Zeit starben viele Freundinnen von Lidiya: „Meine Eltern haben versucht, das zu verheimlichen. Wenn ich nach Xenia oder Viktoria fragte, merkte ich an ihren Blicken, was passiert war.“ Bei dem Gedanken schießen ihr bis heute Tränen in die Augen.

„Als es mir besser ging, wurde ich mit einer Kindergruppe nach Österreich eingeladen und habe gesehen, wie andere Menschen leben. Damals habe ich verstanden, dass das Leben weitergeht und ich dafür kämpfen muss.“ Bis heute muss sie regelmäßig zu Untersuchungen, darf nicht in der Sonne liegen und muss auf ihre Ernährung achten. Dennoch hat sie ihre Ausbildung zur Übersetzerin geschafft. Und kämpft.

Das nie in Betrieb gegangene AKW Zwentendorf ist als Symbol für den Atomausstieg weit über Österreichs Grenzen hinaus bekannt. Am Gelände des Atomkraftwerks geht zu Fronleichnam das zweite Tomorrow-Festival über die Bühne.

Von 30. Mai bis 1. Juni sind österreichische und internationale Bands zu sehen, darunter die Brit-Rocker Kaiser Chiefs und das deutsche Hip-Hop-Flagschiff Die Fantastischen Vier sowie die heimischen Größen Attwenger, Naked Lunch und der Nino aus Wien.

Parallel zum Festival in Zwentendorf organisiert die Umwelt-Organisation Global 2000 eine internationale Anti-Atom-Konferenz mit Experten, NGOs und Aktivisten aus 18 Ländern.

www.tomorrow-festival.at

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